Zum Welttag der Poesie: Anders dichten und denken im Freien

Freiluftpoesie? Das lässt an Freiluftmalerei denken – und in Analogie dazu ist mir die Bezeichnung tatsächlich in den Sinn gekommen. Seit einiger Zeit benutze ich das Wort für lyrische Texte mit einer Entstehungsgeschichte „im Freien“ – immer dann also, wenn ich draußen unterwegs bin und mit einem Gedicht im Kopf und in den Füßen zurückkehre. Denn was für die Freiluftmalerei das Licht ist, ist für die Freiluftpoesie die erweiterte Sinneswahrnehmung beim Hören, Riechen, Beobachten draußen in der Natur oder Stadt, beim Erleben von Witterungseinflüssen, im Rhythmus des Gehens, manchmal auch in der Ruhe des Innehaltens und Lauschens. Das alles wirkt sich – immer wieder anders und unterschiedlich gewichtet – auf die Entstehung von sprachlichen Bildern und Stimmungsnuancen aus, beeinflusst den Sprachrhythmus, erweitert das Vorstellungsvermögen, sucht und findet oft eine klare und „handliche“ Struktur, die sich beim Gehen im Kopf formt, also nicht auf dem Papier am Schreibtisch konstruiert wird. Wie in der Malerei entstehen im Freien andere Werke als in geschlossenen Räumen.

Die inspririerende und formgebende Kraft solcher Erfahrungen und Wahrnehmungen, die in der poetischen Sprachgestaltung ihren Ausdruck finden, geschieht in vielschichtiger Verbundenheit zur Mitwelt in all ihren Facetten – nicht als Naturschwärmerei, sondern als Spiegel und Erfahrung des Zerbrechlichen, Flüchtigen, Eigensinnigen, Verwobenen, Faszinierenden, gestaltet mit Respekt und Behutsamkeit.
Die Mitwelt wirkt ganz unmittelbar hinein in das, was ich allein aus mir selbst heraus kaum hervorbringen könnte und stärkt meine Imaginationskraft für das, was über mich selbst hinausweist.

Ich suche dabei also nicht gezielt nach Wegen oder Landschaften, um hier einer schon vorgefassten poetischen Idee oder Stimmung lediglich Nahrung zu geben. Vielmehr gehe ich einfach los, gehe lange genug, um die Sinne nach und nach von vorgefassten Gedanken zu befreien und für das Ungeformte zu öffnen, das sich dann im Rhyhtmus der Gehbewegung eine neue Form suchen kann.

Oder ich gehe los mit einer Melodie ohne Text im Kopf, gehe und gehe und lasse die Eindrücke im Freien so lange auf mich wirken, bis sich erste Worte und Gedanken mit der Melodie verbinden.

Oder ich greife unterwegs ein Wort aus meiner Umgebung auf,  um es im Laufe des Weges nach Art eines Akrostichons Zeile für Zeile durchzubuchstabiere und dabei die Assoziationen zu nutzen, die ich draußen gewinne und nun mit der Buchstabenfolge verspinne.

 

Vogel(w)orte – Begegnungen mit gefährdeten Vögeln

Um speziell diese Form an einem Beispiel konkret zu machen: Über eine längere Zeit habe ich draußen besonders jenen Vögeln Aufmerksamkeit geschenkt, die nach der Roten Liste Schleswig-Holstein als gefährdet gelten. Die Feldlerche gehört dazu und die Wachholderdrosseln, der Kiebitz und die Rohrdommel zum Beispiel. Nach Art des Akrostichons habe ich dann je nach Gelegenheit im Jahreslauf von lebendigen Begegnungen mit ihnen erzählt, habe ihre Namen Buchstabe für Buchstabe als Schlüssel für meine Zeilen entdeckt, habe mich ihnen untergeordnet, um aus dieser Perspektive staunend zu beschreiben, wie ich die selten gewordenen Begegnungen mit ihnen im Freien wahrnehme – das Faszinierende wie gleichermaßen auch die Gefährdung und Flüchtigkeit des Moments mit im Blick.

 

Wintergrau der Tag –

Als wäre es Zeit für Farben und Lieder, landet ein

Chor mit scheckigen Federn im Zierapfel-Strauch.

Höre ich schon, wie sie singen?

Ohne ein Ton

Laben sie sich an den leuchtende Früchten und

Drücken den herben Saft aus der Schale.

Erquickt von der Fülle im

Raureifglimmer,

Drängeln sie sich im Geäst mehr und mehr,

Rangeln mit fröhlichem Übermut,

Ordnen sich schließlich, als stände der Einsatz nun kurz bevor.

Stille – ich staune:

Sie singen nicht.

Ein festliches Schweigen – dann fliegen sie weiter mit

Leisem Gesurre

Nach Norden.

Der Zyklus zum Download als pdf: Zyklus Vogel(w)orte I-VII

Es geht also immer um ein Beziehungsgeschehen – oft unverfügbar, schön und brüchig zugleich – und die sprachliche Ausgestaltung geschieht bewusst unter dem Einfluss der lebendigen Begegnung im Freien. Es geht um ein Nehmen und Geben, um Demut und Achtsamkeit vor dem, was ich empfange und mit meinem „In-Der-Welt-Sein“ beantworten kann. Der poetische Text, der sich dabei herausbildet, ist das eine. Immer entsteht und verändert sich im Entstehungsprozess noch etwas anderes in diesem Wechselspiel, hat Konsequenzen auf meinen Umgang mit dem, was ich wahrnehme – bis hinein ins Gesellschaftliche, Ökologische, Politische.

 

Neue Perspektiven durch kulturelle Erzählweisen

Freiluftpoesie ist niemals nur Nabelschau und Befindlichkeitslyrik. Es ist immer eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Anderen um uns herum, die zum Perspektivwechsel herausfordert, Erstaunliches und Widerständiges beschreibt, Fragen stellt – bei mir wie vielleicht auch bei anderen, die die Texte lesen.

Für mich reiht sich eine so verstandene Freiluftpoesie auch in das Spektrum von Nature Writing ein. Denn Nature Writing sucht ebenfalls andere Zugänge zum Erleben von Verstehen von Natur und Landschaft, stellt Beziehungen her, lässt Raum für politische, kulturgeschichtliche oder ökologische Reflektionen. Man findet auch hier wenig Schwärmerisches – und doch oft eine tiefe Liebe und Verbundenheit zur Mitwelt. In diesem Sinne lädt Nature Writing zum Um- und Neudenken ein. Nicht mit harten Fakten und Appellen, sondern durch Irritation, durch das Staunen und die überraschend andere Perspektive, in die wir mit hineingenommen werden – und die uns so neu und anders über unsere Beziehung zur Natur nachdenken lässt. Und damit auch unseren Umgang damit verändert.

Zum Weiterlesen: https://waldworte.eu/2022/10/23/wann-wird-das-licht-kommen-und-wie-nature-writing-als-erfahrung-mit-dem-schoepferischen-ein-essay/

Folgt man diesem Gedanken weiter, ist es anregend, mit dem Buch von Birgit Schneider „Der Anfang einer neuen Welt“ (Berlin, 2023) der Frage nachzuspüren, wie wir uns eine kaum vorstellbare Bedrohung von Lebensräumen wie den Klimawandel erzählen können, ohne zu verstummen. Welche  kulturellen Erzählweisen verändern den Blick und retten die Vorstellungskraft in einer gefährdeten Welt?

„Die Suche nach neuen, anderen Stimmen und anderen Sichtweisen sind miteinander verbunden. Der kolumbianisch-amerikanische Anthroprologe Arturo Escobar […] plädiert dafür anzuerkennen, dass die Sicht der Moderne im Vergleich mit anderen Weltbildern zu eng ist, um die ökologischen und sozialen Krisen der Gegenwart angemessen zu denken. Die Gewissheit der einen modernen Geschichte mit ihrem Glauben an die eine Objektivität wirken als Barrieren für ein neues sozialökologisches Denken. […Arturo Escobar empfiehlt], die vielfältigen Weltsichten und Existenzweisen dieser Erde ernst zu nehmen […] Das kann gelingen, wenn man imaginäre Positionenn einnimmt, den Standpunkt wechselt und den Klimawandel aus der Perspektive verschiedener Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft wahrzunehmen versucht. Nahes lässt sich aus der Ferne betrachten und Fernes aus der Nähe, Abstraktes kann man mit Konkretem ins Verhältnis setzen und Globales mit Lokalem. […] Nicht zuletzt können auch nicht-menschliche Wesen wie eine versteinerte Auster, ein Fuchs oder ein Baum in der Stadt neue Perspektiven liefern. […] Ich trete dafür ein, dass wir andere Formen und Formate [brauchen], um Sinn zu erzeugen – in einer Welt, in der vieles nur noch auf dissonante und schmerzhafte Weise Sinn ergibt. Aus diesem Grund hoffe ich weiter auf die Kultur als einen Raum, in dem über Deutungen ästhetisch, erzählerisch und kritisch spekuliert werden kann, in dem wir unser Fühlen und Vorstellen dehnen, entwickeln und miteinander teilen können. […Kunst eröffnet] einen Raum, der uns über verschiedene Perspektiven, poetische und ästhetische Modi ins Gespräch bringen kann. Kunst ist kein Umerziehungsraum, sondern einer der Öffnung – wenn auch ohne einen eindeutigen oder gar einzig möglichen Ausgang. […]

Das Denken über den Klimawandel ist festgefahren und erstarrt. Die Bilder sind gleichsam durchsichtig geworden, die Geschichten sind so bekannt, dass viele weder an sie glauben noch emotional von ihnen berührt werden. […] Es ist von größter Wichtigkeit, vielfältiger über das Thema Klimawandel zu reden, zu imaginieren und nachzudenken und dabei auch die Gefühle ernst zu nehmen. […] Kulturelle Erzählweisen ermöglichen es, neue Perspektiven einzunehmen und Türen zu neuen Räumen des Vorstellens, Denkens und Fühlens aufzustoßen. All diese Ansätze sind noch nicht ausreichend genutzt worden, als Öffnungen, die aus festgefahrenen Denkweisen herausführen.“

(aus: Birgit Schneider: Der Anfang einer neuen Welt. Wie wir uns den Klimawandel erzählen, ohne zu verstummen. Berlin, 2023. S. 256-264 in Auswahl gekürzt)

Freiluftpoesie im hier beschriebenen Sinne setzt sich immer wieder neu der Chance des Perspektivwechsels aus, indem man sich selbst draußen als Teil der Natur soweit zurück nimmt, dass die Mitwelt sich umso vielfältier einbringen kann in die Textgestaltung. Was sich in diesem Wechselspiel an Sinn ergibt, ist selten eindeutig, und kann doch zur Vergewisserung in einer Welt beitragen, in der wir die Deutungen nur mit Respekt und Achtung für die Fragilität und Schönheit der Mitwelt finden können.

Das gilt übrigens ganz ähnlich für Wildwuchsgeschichten – aber das ist schon wieder ein neues Kapitel…

Mehr dazu hier: https://waldworte.eu/2022/10/05/mit-worten-spielen-imagination-und-weltbeziehung-durch-wildwuchsgeschichten-heute/

Susanne Brandt

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Flensburg oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt