Mein Name ist Weizen – ein Erzählweg im Wandel

Hamburger Hauptbahnhof. Ein Schritt vor die Tür. Maske lüften. Durchatmen. Ein bisschen Bewegung vor der langen Weiterfahrt. Um mich herum: Stein, Asphalt, Stahl, Beton, Autos und viele Menschen. Keine grüne Oase.

Ich schaue genauer. Da! Aus einer Ritze zwischen Gehweg und Wand hat sich was ans Licht gearbeitet. Ein Weizenhalm, wie ich vermute. Noch grün im September. Hätte ich jetzt ein Stück Kreide in der Tasche (das sollte ich mir angewöhnen!), hätte ich Lust, eben das auf die Gehwegplatte daneben zu schreiben: Weizen!

Wer hier nicht zu hastig vorbeieilt, wundert sich dann vielleicht: Weizen? Grundlage des Brötchens , das ich gerade schnell im Gehen verputze? Hier mitten in der Stadt? 

Bis der nächste Regen oder die vielen Füße die Kreideschrift wieder verschwinden lassen, kann der Halm mit seinem Namen anders auf sich und den Wert des Getreides aufmerksam machen, als in der Anonymität der Schmuddelecke, aus der er sich hier so mutig aufzurichten versucht.

 

#krautschau

 

Auf die Idee mit der Kreide und der Benennung solcher Wildgewächse haben mich Guerillabotaniker gebracht, die bereits in vielen Städten der Welt unterwegs sind. Wie der Biologe Fionn Pape in Göttingen zum Beispiel. Sie teilen ihre Entdeckungen unter #krautschau #morethanweeds #mehralsunkraut oder ähnlichen Hashtags. Und wenn sie mal nicht wissen, was da wächst, helfen Pflanzen-Bestimmungs-Apps wie Flora Incognita. Oder einfach der Klassiker „Was blüht denn da?“. Den gibt es in nahezu jeder Bücherei zum Ausleihen. Denn die Artenvielfalt erweist sich schnell als so groß, dass auch erfahrene Pflanzenkennerinnen und -kenner schnell an die Grenzen ihres Basiswissens kommen können.

Genau das gefällt mir an dieser Bewegung so sehr: Man braucht keine besondere Ausrüstung, tut nichts dazu, streut keine neue Saat aus und legt keine Gärten an, sondern schenkt ganz einfach dem Aufmerksamkeit, was schon da ist – und als vermeintliches „Unkraut“ sonst eher mühsam bekämpft als im Vorbeigehen leichtfüßig geachtet und als etwas Lebendiges geschätzt wird.

 

„Begehbares Pflanzenbuch“ im Werden und Vergehen

 

Das geschieht keineswegs nur aus Freude am Schönen. Die Botschaft der markierten Wildpflanzen in der Stadt ist vielmehr eine Politische: Sie sensibilisiert für die Bedeutung und Verletzbarkeit der Arten. Als Nahrung und Habitate sind Pflanzen wichtig für bedrohte Insekten und andere Tiere. Wobei auch deutlich werden muss: Die Rettung des Weizenhalms am Hauptbahnhof wird den Artenverlust nicht aufhalten. So naiv ist das ebenso fragile „begehbare Pflanzenbuch“, das durch Guerillabotanik am Straßenrand für kurze Zeit und im ständigen Werden und Vergehen entsteht, nicht zu lesen und zu verstehen. Die Ansätze für mehr Biodiversität sind vielmehr in der Landwirtschaft zu suchen. Eben dafür gilt es, sich zu engagieren.

 

Lebendiges Wachsen statt Gift und Brandgeruch

 

Die Aufmerksamkeit für den einsamen Weizenhalm in der Stadt könnte also das Bewusstsein für die Problematik schärfen. Und nebenbei vielleicht mit dazu beitragen, dass nicht mehr so oft mit Flamme, Gift und Messer gegen das unerwünschte Kraut vorgegangen wird. Denn alles, was wir mit Namen ansprechen können, hat bessere Chancen, geachtet und geliebt zu werden.

 

Ein „Erzählweg im Wandel“, an dem viele mitschreiben

 

Apropos „begehbares Pflanzenbuch“: In meinen Augen schreiben Guerillabotanikerinnen und -botaniker mit ihren vergänglichen Kreidebotschaften wunderbar wandelbare Erzählwege in den Staub der Straßen! Und jede und jeder ist eingeladen, pflanzenkundig daran mitzuschreiben. 

Das Entdecken, Lesen und Schreiben geht übrigens am besten, wenn man zu Fuß unterwegs ist: #frohzufuss

Zum Weiterlesen:

https://www.greenpeace-magazin.de/leseecke/von-wegen-mauerbluemchen?fbclid=IwAR2ZJrz0fHev7rlm3Egw9Ytdj5SRYU40vAFUCdvrPyXNu5bPZ_1F0Y2nDUs

 

Susanne Brandt

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt