Unterwegssein – das lässt an Urlaub denken und ist doch zugleich eine alltägliche Herausforderung. In einem weiter gefassten Sinne meint Unterwegssein eine Veränderungserfahrung, wie sie körperlich, sozial und seelisch besonders intensiv wahrnehmbar wird, wenn wir uns in verschiedenen Lebenssituationen auf den Weg machen. Die Perspektive wechseln. Das enge Kreisen um unsere kleine Welt unterbrechen und hinterfragen (lassen). Mit kleinen Schritten oder über weite Strecken.
Vor der Pandemie gehörte es zu meinem Alltag, mich beruflich oder privat häufig zwischen wechselnden Orten zu bewegen – oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß. Gern auch mal auf langen Wegen. Zu zweit per E-Auto. Mit dem Flugzeug schon lange nicht mehr.
In der Pandemie war das vor allem zwischen November 2020 und April 2021 nur eingeschränkt möglich. Zu Fuß – das hatte im Nahbereich auch weiterhin Priorität. Aber über größere Entfernungen fand der Austausch in vielen Bereichen ein halbes Jahr lang vorrangig via Zoom & Co. statt. Ohne Reisen. Ohne echte Bewegung aufeinander zu. Mit einigen Vorteilen. Und spürbaren Grenzen.
Seit Juni bin ich nun wieder regelmäßiger unterwegs. Beruflich wie privat. Wichtige Zeiten zur Reflexion: Was zählt, was ist wichtig(er) geworden, wie und wo möchte ich mich einbringen? Was könnte und sollte auch weiterhin digital statt in Präsenz miteinander ausgetauscht werden? Und was besser nicht? Wie erweitert das Unterwegssein die An-Schauung und das Nach-Denken?
Im Vergleich zu den „reisearmen“ Monaten wird mir jetzt umso deutlicher bewusst: Ortswechsel haben wesentlich Anteil an Veränderungsprozessen, weil dabei die Gedanken auf besondere Weise in Fluss kommen, weil Vertrautes mit dem Unvorhersehbaren konfrontiert wird – und daraus Neues entsteht.
Also: Gemeinsam in Bewegung kommen – das ist im umfassenden und nachhaltig wirksamen Sinne nicht mal eben digital zu ersetzen. Das bleibt als körperliche, soziale und umweltbezogene Erfahrung wichtig und hat durch die Pandemie noch an Bedeutung und Bewusstheit gewonnen – immer verknüpft mit der Frage nach einer ökologisch durchdachten Reiseweise.
Da passt es gut zusammen, dass nach-denkliches Reisen selten auf dem schnellsten Weg zum Ziel führt. Zeit ist dabei in mehrfacher Hinsicht ein Wert, der er-fahren, be-gangen, ge-lebt statt möglichst kurz gehalten wird. Für private Reisen gilt das ebenso: Wo und wann immer Veränderungen anstehen, ist es gut, sich auf den Weg zu machen. Und das braucht Zeit.
Logbuch der Veränderungen – ein Forschungsprojekt
Diese und andere Erfahrungen sind mit den Erfahrungen von vielen anderen Menschen eingeflossen in ein bürgerwissenschaftliches Projekt namens „Logbuch der Veränderungen“, das unter Mitwirkung von verschiedenen Wissenschaftler*innen am Forschungszentrum Nachhaltigkeit an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde derzeit ausgewertet wird:
In diesem Online-Journal sollten die Teilnehmenden in verschiedenen Phasen und über viele Monate der Pandemie ihre Eindrücke von der Corona-Krise zu definierten Bereichen schildern – z.B. zur Mobilität. Entstanden ist eine Textsammlung mit bislang weit über 1000 Einträgen, die eine Zäsur widerspiegelt, zugleich aber auch Beweglichkeit und Neuorientierung:
Wie stellen sich Menschen auf große Umbrüche ein? Was lässt sich daran zur Veränderungsbereitschaft ablesen? Wie verschieben sich die Prioritäten? Und was bedeutet das für den Umgang mit dem, was als besonders kostbar oder verletzlich wahrgenommen wird? Die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse könnten wertvoll sein für andere epochale Umwälzungen. Für den Klimawandel zum Beispiel. Denn auch dieser fordert heraus zu neuen Reiseweisen und bleibt gleichzeitig angewiesen auf unsere Beweglichkeit und Kreativität bei der Mitgestaltung von nachhaltigen Veränderungen.
Viele haben bereits damit begonnen, sich in dieser Kunst zu üben: weise reisen. Oder: Bewusst gestaltete Reiseweisen als Veränderungserfahrungen zu begreifen, die ökologische, soziale und innovative Chancen in sich tragen.
Gut möglich, dass sich das als ein Ergebnis aus der Nachhaltigkeitsforschung in Pandemiezeiten – dann deutlich differenzierter – abzeichnet. Und Hoffnung weckt.
Susanne Brandt
(Gedanken zu Corona im Juli 2021)
Damit der Tanz gelingt – Lernen, Kommunizieren und Gestalten mit “Begleitmusik”