Ein Erfahrungsbericht:
Lässt sich beschreiben, wie das gelingt: mit Kindern draußen in der Natur ins Erzählen zu kommen oder zu singen?
Es gibt dafür kein Rezept und keine für alle passende Anleitung. Aber es gibt Erfahrungen, die sich nach und nach sammeln lassen. Es gibt überraschende Entdeckungen und unvorhersehbare Momente, die alles Geplante plötzlich in eine andere Richtung führen. Und es gibt ein paar Dinge, die man zunächst für sich selbst erkunden kann, Ideen, die sich daraus entwickeln und ein wachsendes Repertoire an kleinen Versen, Liedern und Geschichten, die sich in passenden Situationen spontan einflechten lassen in das Naturerleben mit den Kindern.
Mir persönlich liegt dabei vor allem das dialogische Erzählen am Herzen. Und eben das entwickelt sich draußen, da die Kinder durch die Natur selbst so vieles entdecken und mitteilen möchten, ihre Sinne nutzen und sich von der Umwelt anregen lassen, auf besondere Weise. Gerne nehme ich dabei das auf, was die Kinder von sich aus ansprechen, fragen, bemerkenswert finden. Ich knüpfe mit einem Text, einer Geschichte, einem Mitmachlied also an Stichworte und Beobachtungen der Kinder an und versuche das, was ich einbringe, mit den Kindern und ihren Ideen ganz flexibel zu variieren und an die jeweilige Situation anzupassen.
Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, mit einem Impuls oder einer Anregung, die von mir ausgeht, einzusteigen: Ich kann zum Beispiel den Blick hoch zu den Baumkronen lenken. Was für ein faszinierendes Netz an Zweigen, das sich da vor den Wolken und dem Himmel bewegt und je nach Windstärke und Jahreszeit rauscht und knistert!
Wie so oft fallen mir auch zu dieser Wahrnehmung Notizen von Janusz Korczak ein: „Worüber reden die Bäume mit dem Himmel?“, fragte er in seinen Aufzeichnungen Leihbibliothek für alle vor mehr als 100 Jahren, „Worüber raunen die jahrhundertealten Baumriesen? Welches Lied singt der Wald?“
In meinem „Repertoire“ gibt es in Anlehnung zu Korczaks Fragen folgenden kleinen Mitmachtext, der wahlweise gesprochen, gesungen und in jedem Fall mit den Kindern frei ausgestaltet werden kann:
„Was reden die Bäume mit Wolken und Wind?
Was reden* sie, wenn sie zusammen sind?
Vom Schnee in der Nacht, vom Schnee in der Nacht –
so reden* sie, wenn sie zusammen sind.“
*statt reden lässt sich wahlweise auch singen, flüstern, träumen…einsetzen
(auch zu singen nach der traditionellen norddeutsche Melodie von „Lütt Anna Susanne“)
Für die Mitgestaltung der 3. Verszeile, die bei jeder Wiederholung des Verses zu den Beobachtungen der Kinder neu gebildet wird, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Wetter- und Umwelteinflüsse, die gerade auf die Bäume einwirken: Ist es warm oder kalt, nass oder trocken, hell oder dunkel? Und was wächst und lebt alles um die Bäume herum?
Die „Stimmen“ des Lebens wahrnehmen und deuten
Sich mit Kindern gemeinsam solche Fragen zu stellen, heißt also zunächst: ein Empfinden dafür zu entwickeln, dass wir gemeinsam in einer lebendigen Umwelt leben, in der die Pflanzen und Tiere nicht einfach „Sachen“ sind, die man untersucht, erforscht und sich daran je nach Nützlichkeit bedient. Aber auch eine Vermenschlichung – im Blick auf Kinder oft mit einer Verniedlichung verbunden – trifft nicht das, was das Wesentliche des Lebendigen ausmacht.
Jüngere Kinder geben Dingen und Wesen im Spiel oft eine Stimme, reden mit ihnen, lassen sie sprechen und wissen doch um das Anderssein im Verbundenen. Wenn Bäume „sprechen“, heißt das zunächst: Sie stehen im Austausch mit anderen Elementen und Wesen in der Natur. Davon können wir als Menschen erzählen mit den Worten, mit Fantasie und Bildern, die uns dafür gegeben sind und die etwas beschreiben, was von Be-Deutung ist.
Es geht bei dem Textbeispiel also nicht darum, die „redenden Bäume“ möglichst „menschlich“ darzustellen und ihnen gar noch moralische Verhaltensweisen anzudichten. Vielmehr gilt es, die Bäume eingebunden in einer lebendigen Umwelt wahrzunehmen, als Wesen, die verschiedenen Klima- und Witterungsbedingungen ausgesetzt sind, die als alte Bäume vielleicht sogar selbst Biotope sind für andere Lebewesen.
Der Biologe und Philosoph Andreas Weber gibt zu bedenken: „Kinder sind neugierig, sie staunen und haben Forschergeist. Dabei ist das Forschen aber zweitrangig… Entscheidender ist, dass die Natur ein Spiegel ist, in dem Kinder sich selbst erkennen.“ Für ihn geht es vor allem um eine Seinserfahrung, um ein Bewusstsein für Verbundenheit, um die Vorstellung, selbst ein Teil des Lebendigen zu sein.
Was heißt das nun für das freie und dialogische Erzählen mit Kindern in der Natur?
Das Erzählen im Freien ist nach meinem Verständnis ein sehr offenes, oft überraschendes Geschehen, bei dem Kinder vor allem eigene Entdeckungs- und Gestaltungsfreiräume erkunden und nach und nach mit Bedeutung verbinden. Die Umgebung mit ihren verschiedenen Stimmen und Rätseln ist keine Kulisse für das, was ich selbst mit Geschichten und Gedichten in dieses Entdecken einbringe, sondern nimmt – wie die Kinder auch – aktiv Anteil am Erzählen.
Da dies für die Kinder einher geht mit Bewegung, Sinnlichkeit, Neugier und vielfältigen Emotionen, gibt es eigentlich kaum ein sprachanregenderes Umfeld für das dialogische Erzählen als eben diese Fülle an lebendigen Wesen, Zeichen und Zusammenhängen.
Ob hier nun der Impuls für eine Geschichte oder ein Gedicht mit dialogisch-spielerischen Möglichkeiten von mir ausgeht oder von den Kindern – das lässt sich am besten aus der Situation heraus entscheiden, wenn erkennbar ist, wie sich die Kinder von der Natur selbst ansprechen lassen.
Nach meiner Erfahrung „spricht“ und „erzählt“ die Natur selbst schon so viel, dass ich mich dahinter eher zurücknehme und mit den Kindern die Aufmerksamkeit dafür einübe, mich ansprechen zu lasse und so einen Weg suche, mit der Natur wie mit den Kindern in Dialog zu kommen. Geschichten und Gedichte, die ja im Ursprung selbst oft von dem Naturerleben inspiriert sind, können hier behutsam ihren Platz finden. Oder auch ganz neu entstehen…
Susanne Brandt