Schöpfungszeit: Das Ganze in den Blick nehmen

Mitten im Alltag werde ich in der Lübecker Altstadt daran erinnert: Hoch ragt die Katharinenkirche mit dem doppelchörigen Kirchenschiff über die Dächer der umliegenden Häuser hinaus. 800 Jahre zurück reicht die Geschichte der Franziskaner in Lübeck. Noch zu Lebzeiten von Franz von Assisi sind sie 1221 über die Alpen Richtung Norden aufgebrochen, von Augsburg aus weitergezogen und ließen sich bereits 1225 zum Bau des Klosters in Lübeck nieder – genau in dem Jahr, in dem Franziskus im fernen Italien, schon vom nahen Tode gezeichnet, seinen Sonnengesang gedichtet und gebetet hat. Hier von Lübeck aus erfolgte dann die weitere Verbreitung der Franziskaner im gesamten Ostseeraum.

So alt ist die Wandmalerei mit Franziskus-Darstellungen in der Katharinenkirche nicht. Wohl etwa um 1510 wurden hier Szenen zusammengeführt, die sich als Legenden um das Leben des Heiligen ranken. Im Zentrum: Franziskus predigt den Tieren.
Die überlieferten Schilderungen seiner liebevollen Zuwendung zu allen Geschöpfen haben bis heute eine besondere, teils folkloristisch verklärte Bekanntheit erreicht und behalten.

Bruder unter Geschwistern

Hilfreich für das tiefere Verständnis dieser Szenen sind weitere Legenden, übertragen und gedeutet vom Franziskus-Kenner Anton Rotzetter, die auch davon erzählen, wie die Tiere keineswegs nur lauschend dem Prediger zu Füßen lagen. Sie blieben wild und mitunter störrisch. Denn Franziskus wollte sich keineswegs über ihren Eigensinn erheben, sondern sah sich demütig als Bruder unter Geschwistern – und eben zu diesen zählte alles, was zum gesamten Kosmos gehörte: Tiere und Pflanzen, Gestein und Gestirn. So erzählt es auch sein Sonnengesang mit seiner poetischen Architektur klar und schlicht.

Die auf dem Bild dargestellte Predigt für Tiere an diesem denkwürdigen Ort erinnert an diese geschwisterliche Haltung und weist doch weit über das hinaus, was hier vordergründig zu sehen ist.

„Um das Ganze in den Blick zu nehmen, brauchen wir Sinn für die Gesamtheit, für die zwischen den Dingen bestehenden Beziehungen, für den weiten Horizont,“

heißt es in der Enzyklika Laudato Si, die seit 10 Jahren ihrerseits den Geist des Sonnengesangs in die Gegenwart trägt und uns so ein dringend gebotenes Umdenken in der Beziehung zur Mitwelt vor Augen stellt.

Bilder, mit denen davon etwas ins Bewusstsein und zum Ausdruck kommen kann, lassen sich an vielen Orten der Welt und immer wieder anders entdecken –  ganz in Sinne der franziskanischen Schöpfungsspiritualität gerade auch im Kleinen, manchmal unscheinbar am Wegrand:

„Es ist die Rückkehr zu der Einfachheit, die uns erlaubt, innezuhalten, um das Kleine zu würdigen“, heißt es dazu in der Enzyklika.

Mehr dazu hier:

Entdecken – Mut fassen – wachsen lassen. Mit Nature Journaling durch die Schöpfungszeit

 

Oder auch im Gesang:

Auf die Stimmen der Geschwister hören. Der Sonnengesang als Vision

„Lösungen für ökologische Krisen erreichen wir nicht über einem einzigen Weg, die Wirklichkeit zu interpretieren und zu verwandeln. Es ist auch notwenig, auf die verschiedenen kulturellen Reichtümer der Völker, auf Kunst und Poesie, auf das innerliche Leben und auf die Spiritualität zurückzugreifen.“ (aus Laudato Si, Nr. 63)

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt