Seit mehr als 30 Jahren begleite ich das Vorlesen und Erzählen in Kitas durch Angebote für Kinder und Workshops für pädagogische Fachkräfte. Bis heute ist es mir wichtig, immer beide Seiten zu erleben und zu verstehen – gerade vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Veränderungen, die sich über die Jahre feststellen lassen:
Die sprachlichen Voraussetzungen in einer Gruppe sind diverser geworden, das Vertrautsein mit Büchern und Lesekultur in den Familien eher die Ausnahme, die Anforderungen in den Einrichtungen vielfältig und hoch, die Konzentrationsspanne bei den Kindern oft sehr kurz, das Interesse an Büchern eher im Mittelbereich angesiedelt.
Das alles ist nicht den Kindern anzulasten und gewiss kein Indiz für mangelndes Engagement bei den Erzieherinnen und Erziehern. Im Gegenteil: Der Bedarf an Fortbildungen zum Thema wie auch an Konzepten zur Sprachförderung in der Praxis ist deutlich gewachsen – eben weil es nicht mehr darum gehen kann, einfach vorzulesen und damit zu rechnen, dass die Kinder begeistert zuhören.
Und nun?
Beim Fachtag Sprache in Hagen ging es daher heute u.a. in zwei Workshops unter dem Motto „Und nun?“ um Wege vom Erleben zum Lesen und vom Lesen zum Erleben. Ich hatte dazu eine Auswahl solcher Bücher und Kamishibai-Bildkarten im Gepäck, die es erlauben, möglichst flexibel, interaktiv und handlungsorientiert auf die verschiedenen Befürfnisse und Fähigkeiten der Kinder einzugehen.
Im Mittelpunkt steht dabei immer wieder die Frage, wo und wie die intrinsische Motivation für eine Beschäftigung mit Büchern liegen bzw. geweckt werden könnte und wie Kinder spüren, dass Bücher ganz elementar mit ihrem Leben zu tun haben – genauer gesagt: mit der lebendigen Mitwelt in ihrer ganzen Vielfalt.
Besonders geeignet sind in diesem Sinne solche Titel, die sich auf verschiedenen Ebenen erzählen und erschließen lassen – von der Krippe bis zur Grundschule, d.h. die sich nicht über lange Texte, sondern eher über inspirierende Bilder und sinnliche Erlebnisse ausdrücken: Mal führt das Buch unmittelbar ins Tun und findet dort in freien Dialogen eine Fortsetzung, mal ist es umgekehrt: Aus dem freien Tun führt der Weg ins Buch hinein.
Anders als gedacht
Wie gut, wenn sich die Kinder dabei mit ihren Talenten und Interessen aktiv wiederfinden oder einbringen können und Bücher so über spielerische Wege – z.B. mit Steinen, Stöckchen, Figuren und Farben – als unerschöpfliche Quellen für überraschende Erfahrungen kennenlernen. Denn dann ist sie manchmal ebenso überraschend da – die oft vermisste Ausdauer und Konzentration für das, was Kinder spannend finden und „nebenbei“ als vielfältige Sprachanlässe zu nutzen wissen.
Statt auf die vermeintlichen Defizite bei den Kindern zu schauen, lohnt es sich also, das Bilderbuchangebot mit anderen Augen zu betrachten, um jene Beispiele zu entdecken, die so ein bewegliches und lebendiges Wechselspiel beim Betrachten, Gestalten, Spielen und Erzählen erlauben, zu spontanen Ausflügen ins „echte Leben“ anregen – und manchmal anders enden als gedacht.
Susanne Brandt