Die Earth Stories Collection ist eine Sammlung von Mythen, Legenden, Fabeln und Volksmärchen aus Kulturen auf der ganzen Welt, die eine komplexe Weltanschauung vermitteln und die Prinzipien und Werte der Erd-Charta veranschaulichen können. Als Inspiration und Vorbild dafür diente der Svalbard Global Seed Vault in Norwegen, eine Saatgutbank für Nahrungsmittelpflanzen, in der Samen aus aller Welt aufbewahrt werden, um die Ernährung der Menschheit für den Fall einer globalen Krise oder Katastrophe zu sichern. In diesem Sinne versteht sich die Earth Stories Collection als eine kulturelle Saatbank, als eine Basis globaler Bildungsressourcen für den Aufbau (oder Wiederaufbau) einer zutiefst nachhaltigen globalen Gesellschaft, die auf sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit und den Werten von Frieden und Demokratie basiert; also auf den Werten der Erd-Charta.
Für waldworte.eu werden einzelne Beispiele daraus in deutscher Übertragung für das mündliche Erzählen vorgestellt, so auch hier nach einer Quelle aus Estland:
Lindu, die Königin der Vögel
Lindu*, das war die Königin der Vögel, eine Tochter des Himmels. Sie lebte weit entfernt auf einer Insel in der Ostsee, wo die Vögel in ihrer ganzen Vielfalt einander Geheimnisse zuflüstern. Lindu aber, die flüsterte nicht. Ihre schönste Sprache war das Singen.
In jedem Frühjahr lockte Lindu die Vögel mit ihrem Gesang zurück nach Hause. Denn viele hatten anderswo überwintert. Und jedes Jahr im Herbst rief sie einen nach dem anderen zu sich: den Kuckuck, den Kibitz, den Storch, den Kranich, die Seeschwalbe…Sie sagte ihnen: Die Zeit des Abschieds ist gekommen. Und dann machten sich die Vögel wieder auf den Weg.
Sobald sie fortgezogen waren, fühlte Lindu sich einsam in ihrem wilden schönen Häuschen auf der Insel. Sie vermisste ihre Vogelfreunde. Aber Lindu liebte auch den Frieden und die Ruhe. Und sie wusste, dass die Vögel bald zurückkehren würden.
An einigen Winterabenden ging sie nach draußen und sang für die Sterne.
So war es nicht verwunderlich, dass sich der Polarstern bald in die wilde Lindu verliebte. Kostbare Juwelen nahm er als Geschenke mit auf den Weg vom Himmel zur Erde, um sie zu umwerben. Das alles geschah ganz still, denn von Stille war der Polarstern am Himmel umgeben. Und so sanft klopfte er schließlich an die Tür von Lindus Hütte. „Komm rein“, sagte sie. Da trat er ein und war zugleich von ihrer Ausstrahlung tief ergriffen. „Polarstern“, staunte Lindu. „Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?“.
Ganz leise und mit der größten Würde, die er aufbringen konnte, antwortete er: „Lindu, willst du mich heiraten?“ Sie lächelte und schüttelte den Kopf: „Polarstern, ich liebe dein ruhiges Licht. Aber ich kann dich nicht heiraten. Denn der Ort, an dem du lebst, ist so festgelegt. Und nichts wird daran etwas ändern.“
Als der Mond erfuhr, warum der Polarstern mit stiller Traurigkeit zum Himmel zurückkehrt war, dachte er bei sich: „Mich wird sie nehmen! Denn ich bewege mich und mein Erscheinungsbild am Himmel verändert sich.“ So sammelte er silberne Geschenke und überschritt damit bald die Schwelle von Lindus Haus. „Mond!“, rief sie abermals erstaunt. „Was verschafft mir die Ehre?“
Auch er wurde sofort von ihrer Schönheit ergriffen und rief mit zitternder Stimme: „Nimm mich!“. Lindu schaute ihn freundlich an. Dann sprach sie: „Guter Mond, du erhellst meine dunklen Nächte. Aber es sind immer die gleichen Abläufe, die dich mit der Erde verbinden. An bestimmten Tagen bis du voll zu sehen – und dann wieder gar nicht. Nein, heiraten möchte ich dich nicht.“ Da wurde der Mond ganz blass und zog sich zurück.
Die Sonne hatte alles mit angesehen: „Wie könnte sie mich ablehnen, mich – das hellste Wesen im Universum“, so dachte sie. „Die schöne Ausstrahlung der Königin wird mich nicht aus der Fassung bringen.“ So nahm die Sonne eine Halskette aus Gold als Geschenk mit und stürmte durch ihre Tür: „Heirate mich!“, rief sie ihr entgegen, kaum dass sie Lindus Haus betreten hatte. Da wurde Lindu richtig wütend. Sie so zu überfallen, ohne sich zunächst mit ihr vertraut zu machen – das war wirklich unverschämt. „Wie könnte ich dich heiraten? Auch du bist Teil eines vorhersehbaren Wechselspiels am Himmel. Nicht mehr und nicht weniger.“ Da erschrak die Sonne und versteckte sich hinter einer Wolke.
So wurde es wieder still im Haus und bei der Feuerstelle, an der Lindu sich an den langen Abenden wärmte.
Die Wintermonate gingen schon dem Ende entgegen, da bemerkte sie in einer dunklen Nacht Lichter in allen Farben. Sie ging zur Tür, um nachzuschauen, was es damit auf sich hatte. Da stand das Nordlicht Aurora Borealis. Lindu war überrascht und ließ es eintreten. Sie redeten und lachten und sangen und tanzten, bis der Morgen kam. Dann verschwand es so leise wie es gekommen war. Sicher vorhersehbar ist das Nordlicht nie. Aber von nun an kam und ging es immer mal wieder. Und eines Abends war es soweit. Die beiden wünschten sich nichts mehr, als zu heiraten.
Am ganzen Himmel sprach sich die frohe Botschaft schnell herum. Die Vögel machten für sie ein Kleid aus hellsten Federn und die Berge webten einen Schleier aus einem Strom von glitzerndem Wasser. Alle freuten sich auf die Hochzeit… aber dann kam das Nordlicht nicht mehr zurück. Lindu wartete und wartete und blickte in den Himmel, aber kein Zeichen kündigte das Kommen des farbigen Lichtes an. Und kein Vogel konnte die traurige Königin der Vögel trösten.
Als ihr Himmelsvater, der mächtige Urr, das alles sah, rief er die Winde, um sie hochzuheben. Da wehte ihr Schleier hinter ihr her und wurde am Himmel zur Milchstraße. Das Nordlicht – leuchtend und schön wie eh und je – sah, dass sie geweint hatte und bewegte sich zärtlich auf sie zu: „Schau, ich bin wie ich bin, manchmal bin ich hier und manchmal bin ich es nicht – nie sicher vorhersehbar“.
Seit dieser Zeit lebt Lindu in der Weite des Himmel. Und ihre Milchstraße begleitet die Vögel auch weiterhin auf ihrer langen Reise.
Text als pdf zum Ausdrucken: Lindu, die Königin der Vögel
Nach einer Überlieferung aus Estland angepasst von Malcolm Green (2022) / ins Deutsche übertragen und für das freie Erzählen bearbeitet von Susanne Brandt /Unter Lizenz Creative Commons CC BY-NC-SA.
*in der Mythologie auch als Linda bekannt
Quelle: https://theearthstoriescollection.org/en/lindu-queen-of-the-birds/
Zur Interpretation (leicht gekürzt):
Malcolm Green beendet das Erzählen dieser Geschichte in Band 2 der Earth Stories Collection mit den Worten:
Dieser Mythos bringt zum Ausdruck, wie alles in der Natur miteinander verbunden ist. Lindu ist sowohl menschlich als auch ein Teil des Kosmos. Sie spricht mit den Vögeln und sie hören zu. Gleichzeitig ist sie humorvoll und meinungsstark, kennt Enttäuschung, Einsamkeit und Verwandlung. Die Transformation von der menschlichen Form zum Teil des Kosmos zeigt ein Verständnis für die Verbundenheit aller Dinge wie für die Natur der Dinge, die eher fließend als statisch sind. Dies ist eine wesentliche Botschaft der Geschichte.
Die Idee lässt auch an die Gedanken zum Binär- / Vermittlungsprinzip des irischen Bildungsphilosophen Kieran Egan (2012) denken. Egan argumentiert, dass es in der zugrunde liegenden Struktur der Geschichten immer einen einfachen binären Widerstand zwischen Gut und Böse, Mut und Angst, Sicherheit und Gefahr gibt.
Laut Egan stellen diese Gegensätze eines der Hauptmerkmale des Denkens dar, sowohl in der Kindheit als auch im Erwachsenenalter. Darüber hinaus greifen wir auf diese Vorstellung von Gegensätzen zurück, um Gedanken zu konstruieren.
Alles in Paare von Gegensätzen zu teilen, ist der einfachste Weg, Ordnung in die Realität zu bringen, die uns umgibt, und genau das lehren uns traditionelle Erzählungen von Kindheit an. Dies ist etwas, das für das Überleben lebenswichtig ist, wobei zum Beispiel jede Art lernen muss, zwischen dem zu unterscheiden, was Nahrung ist und was wir nicht essen können.
Diese binäre Differenzierung der Realität wird jedoch problematisch, wenn sie einfach unreflektiert auf jene Mensch/Natur- oder Kultur/Naturdifferenzierung übertragen wird, die durch die westliche Weltsicht festgelegt wurde.
Mehr noch: Diese binäre Differenzierung ist weitgehend für die aktuelle globale Klima- und Artensterbensterbekrise verantwortlich, wie der französische Philosoph Bruno Latour hervorhebt, wenn er die rationale, materialistische, mechanistische und reduktionistische Weltanschauung als Ursprung einer solchen Krise identifiziert (Latour, 1993).
Laut Egan: Binäre Gegensätze sind wunderbar effektiv, um eine erste Auseinandersetzung auf die Welt und die Erfahrung zu bekommen, aber wenn sie zu lange dominieren, sorgen sie für unangemessene Reduzierungen und Vereinfachungen. (ebd., S. 141)
Die Binärdifferenzierung wäre daher in der Anfangsphase des Wissenserwerbs in Ordnung, sollte dann aber überleiten in ein Entdecken von Übergängen zwischen den Gegensätzen.
Aber was ist mit den binären Gegensätzen empirischer Kategorien wie Leben/Tod, Tier/Mensch oder Natur/Kultur, wo es keine vermittelnden Elemente gibt, fragt Egan. Gerade hier regen die traditionellen Geschichten aller Kulturen die Vorstellungskraft an wie im Fall von „Lindu, die Königin der Vögel“. Das Erzählen vermittelt zwischen Natur und Kultur. Mit der in Geschichten wohnenden Fantasie lässt sich vielleicht ein Weg finden, die Gegensätze zu versöhnen.
Auf diese Weise wird Egans Binär-Vermittlungsprinzip zu einer zentralen Erklärung, nicht nur für die kritische Bedeutung traditioneller Geschichten in der frühkindlichen Erziehung, sondern auch für die Entwicklung der Fantasie als vermittelndes Werkzeug zwischen Gegensätzen. Es ermöglicht uns, die vereinfachende Weltanschauung zu überwinden, die uns zu der Klima- und Aussterbekatastrophe geführt hat. Und sie kann uns helfen, die systemische Weltsicht zu entwickeln, die wir dort brauchen, wo die Zusammenhänge zwischen den realen Elementen eine lebendige und konstruktive Vorstellungskraft brauchen.
Deshalb sind Geschichten, wie die, die Malcolm Green uns hier vermittelt, so wichtig, weil sie das Untrennbare in der Natur hervorheben. Dies geschieht nicht nur, indem man uns das Bild eines Wesens mit eigenen Meinungen und der Fähigkeit, sich zu verlieben, anbietet, sondern auch, weil es danach mythologisiert und in die Milchstraße verwandelt und so die Vergänglichkeit des sterblichen Lebens mit der Ewigkeit des Kosmos verbunden wird.
Quellen
- Cutanda, G. A. (2016). Relatos tradicionales y Carta de la Tierra: Hacia una educación en la visión del mundo sistémico-compleja (Traditional Stories and Earth Charter: Towards a Complex-Systems Worldview Education) (PhD dissertation). Granada: University of Granada, Spain.
- Egan, K. (2012). Primary Understanding: Education in Eartly Childhood. London: Routledge.
- Green, M. (2018). Lindu, Queen of the Birds. Available on https://static1.squarespace.com/static/5b30fb323e2d09fe11bc5947/t/5f76fa635107591177e4bbf1/1601632933424/Lindu+-+Queen+Of+The+Birds.pdf
- Kirby, W. F. (1895). The Milky Way. In The Hero of Esthonia and Other Studies in the Romantic Literature of That Country, Vol. 1, pp. 147-152. London: John C. Nimmo.
- Latour, B. (1993). We Have Never Been Modern. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Eine weitere Geschichte aus der Collection:
Weltgeschichtentag 2024: Friedensgeschichte aus der Earth Stories Collection