Wer sich schon häufiger hier auf „waldworte.eu“ umgeschaut hat, ist vielleicht dem Begriff und den Beiträgen zur „Freiluftpoesie“ begegnet. Anknüpfend an diese bewegte und naturverbundene Erfahrung des „Dichtens beim Spazierengehen“ ist dieser Beitrag speziell dem musikbezogenen Schreiben von gemeinsam singbaren Liedtexten aus der Natur gewidmet – einer besonderen Form der „Gebrauchskunst“.
Dabei wandern also nicht nur die Worte mit, sondern auch Vorstellungen ihrer Gesanglichkeit mit besonderer Aufmerksamkeit für Rhythmus, Vokalklang und Metrik der Sprache – und ebenso für die Landschaft, in der sich diese Vorstellungen textlich wie musikalisch entfalten.
Das ist erstmal nicht besonders originell und schon gar nicht neu. In der Kulturgeschichte lassen sich viele Beispiele für „bewegte“ Verbindungen von Lyrik, Komposition und Naturbeschreibung mit Wechselwirkungen in Richtung Grafik und Malerei finden: Caspar David Friedrich, Eichendorff, Brahms… – viele Kunstschaffende der Romantik erzählen z.B. davon, dass Wanderungen oder tägliche Spaziergänge im Freien untrennbar zu ihrem Schaffensprozess gehören. Von Brahms heißt es, er habe nicht mit Notenpapier und Feder in der Hand komponiert, sondern wäre mit seinen musikalischen Einfällen in die Natur gegangen – solange, bis das Werk in seiner inneren Vorstellung eine Gestalt angenommen hatte, die reif genug war, um zu Papier gebracht zu werden.
Die Epoche der Romantik ist zugleich von einer starken Subjektivität und Empfindsamkeit geprägt, mit der nicht nur das Schöne, sondern auch individuell erfahrenes Leid zum Ausdruck gebracht wird und in der Natur einen Spiegel findet. Dabei geschieht es im persönlichen Austausch der Kunstschaffenden auch, dass Künste mit ihren Stimmungen einander berühren, anregen und durchdringen, wie viele Briefwechsel aus der Zeit bezeugen.
Natur und Landschaft als Inspiration in Bewegung
Und heute? Das Gehen in Natur und Landschaft als Inspiration und rhythmisch-bewegtes Erleben des Schöpferischen wie das spannungsreiche Wechselspiel zwischen Poesie, Musik und Bildender Kunst wirkt im 21. Jahrhundert nicht weniger anregend und belebend. Gleichzeitig finden heute jedoch eher andere „Beweggründe“ im Freien besondere Aufmerksamkeit und öffentliche Anerkennung: Fitness, Selbstoptimierung, Schritte zählen, sportliche Leistungsziele erreichen und steigern, Ausgleich suchen für den stressigen und bewegungsarmen Berufsalltag…
Und spürbar ist ebenso: Wer heute den Weg durch den Wald oder am Meer als kreativen Prozess und Dialog mit der Natur begreift, tut dies mit anderen Vorstellungen, Erfahrungen, Bildern und Ausdrucksweisen als damals im 19. Jahrhundert. Schönheit im Freien besingen, heißt heute auch: das Gefährdete und Brüchige als menschengemachte Verletzungen erkennen und mitklingen lassen, bei der individuellen Wahrnehmung den gesellschaftlichen Kontext mitdenken, noch staunen können über das Schöne, Raum lassen für spirituelle Zugänge, vielleicht klassische Formen der Gesanglichkeit aufgreifen und weiterentwickeln, sich aber zugleich vor der Verklärung hüten:
Ein Lied aus der Tiefe schwingt auf und schwingt weit,
als wär es ein Kranich zur Zugvogelzeit.
Ich singe auf Erden, die Weite im Sinn,
so froh, dass ich Teil dieser Schöpfung bin.
Ich singe und stehe auf brüchiger Haut:
die Erde, so kostbar, so alt und vertraut,
so schön und gefährdet, so nah und so weit,
verbunden ist alles, was lebt und gedeiht.
Beschwingt und geerdet – so klingen im Lied
die Töne der Sorgen und Hoffnungen mit.
In allem ein Herzschlag, ein Atem, ein Hauch,
im großen Gesang und im Schweigen auch.
Susanne Brandt
Klassische Formen der Gesanglichkeit aufgreifen und weiterentwickeln
Das Hoffen und Sehnen ist in ein schweres Fahrwasser geraten, hat seine Unschuld und Naivität verloren – und führt dennoch nicht in die Hoffnungslosigkeit, wenn wir uns auf eine veränderte Haltung zur Mitwelt einlassen. Dabei spielt die Beziehung zur Natur eine zentrale Rolle und zeigt zugleich, wie dringend wir uns mit einem anderen Rollenverständnis auseinandersetzen müssen: Natur kann nicht länger als Objekt betrachtet werden, verfügbar und nutzbar bis zur Ausbeutung. Vielmehr zeigt sie ihre Kraft als Subjekt, als Gegenüber, das sich einmischt und in vielem als unverfügbar erweist. Es gilt, sich dieser Herausforderung zu stellen, und neu mit der Natur als Herausforderung und Frage an sich selbst ins Gespräch zu kommen:
Und siehe, die Bäume –
wenn um uns so vieles entwurzelt scheint.
Was kann uns noch halten?
Wie lassen Visionen vom guten Leben
sich dennoch entfalten –
den Bäumen so fern und so nah?
Und siehe, die Bäume –
im großen Getöse um Krieg und Macht.
Was flüstern die Blätter?
Wir lauschen und staunen, sind nie ganz sicher
und selten die Retter –
den Bäumen so fern und so nah.
Und siehe, die Bäume –
die leise und weise im Austausch stehn,
sich stetig verwandeln,
uns anders bewegen: Wir halten inne,
begreifen und handeln –
den Bäumen so fern und so nah.
Und siehe, die Bäume –
verbunden mit dem, was uns Leben schenkt
durch Luft, Licht und Erde.
So wächst ein Vertrauen, dass Hoffnung mutig
sich ausweiten werde –
den Bäumen so fern und so nah.
Und siehe, die Bäume –
ans Ende gekommen, da fallen wir –
doch niemals ins Leere.
Mit uns bleibt geborgen im Kreis der Schöpfung
das Schöne und Schwere –
den Bäumen so fern und so nah.
Susanne Brandt
Zur Inspiration:
Christian Sauer: Draußen gehen. Inspiration und Gelassenheit im Dialog mit der Natur. Mainz, 2020
https://typografie.de/produkt/draussen-gehen/
Ausstellungskatalog Brahms-Institut: Der junge Brahms – zwischen Natur und Poesie. Lübeck, 2022
https://www.brahms-institut.de/index.php?cID=1326
Helene Grimaud: Das Lied der Natur. Romantische Fantasie. München, 2014
http://info-netz-musik.bplaced.net/?p=13537
Mehr zu Freiluftpoesie: https://waldworte.eu/?s=Freiluftpoesie