Was bleibt, wenn jemand geht? Was bleibt lebendig angesichts der Vergänglichkeit? Wie gehen wir als Individuen und als Gesellschaft mit den existentiellen Erfahrungen von Wandel, mit der Spannung zwischen Anfang und Ende um?
Besonders die Auseinandersetzung mit den Fragen nach Sterben und Tod gilt – so mein Eindruck – für viele eher als „Privatsache“, als emotionale, vielleicht angstbesetzte Beanspruchung im persönlichen Familien- und Freundeskreis. Und richtig: Dort sind wir alle irgendwann unmittelbar und individuell ganz unterschiedlich davon betroffen – und herausgefordert, mit Sterben und Tod leben zu lernen.
Schwierig ist oft auch die Kommunikation dazu: Denn all die aktuell so populären Selbstoptimierungsstrategien und Erfolgsversprechen, alle menschlichen Machbarkeits- und Steigerungsfantasien kommen hier an ihre Grenzen.
Dass in einem weiteren und tieferen Sinne von Lebendigkeit auch der Tod dazu gehört – das lernen wir nicht im Wettkampf um Aufstieg und Gewinnmaximierung. Das lernen wir durch andere Begegnungen und Perspektiven: durch Menschen in Pflegeberufen zum Beispiel, die mit großer Empathie, mit medizinischen, sozialen und ethischen Kompetenzen und Erfahrungen anderen Menschen täglich so viel Kostbares geben.
Mehr Wertschätzung für das, was von Mensch zu Mensch geschieht
Gesellschaftlicher Wandel bedeutet deshalb auch: der sozialen, pflegerischen und medizinischen Berufs- und Sorgearbeit als gemeinschaftliche Aufgabe von Fachkräften, von Haupt- und Ehrenamt, Familien- und Nachbarschaftshilfe mehr Wertschätzung, Zeit und Sicherheit geben. Sinnstiftende und fürsorgliche Arbeitsbedingungen sind der wichtigste Schlüssel gegen den Fachkräftemangel.
Warum schreibe ich davon nun hier auf „Waldworte“, auf einem Blog, der Verbindungen zwischen Kultur und Natur auslotet und gern auch die weniger offensichtlichen Seiten von Nachhaltigkeit beleuchtet? Eben genau deshalb: weil all die mit Werden und Vergehen verbundenen Fragen und Bedürfnisse eben nicht nur „Privatsache“ sind, sondern elementar zu einem gelingenden Zusammenleben heute und in Zukunft gehören. Sie werfen ein Licht auf unsere Beziehung zur Mitwelt – zwischenmenschlich wie im Blick auf größere Lebenskreisläufe.
Auf dem letzten Wegstück nicht allein
Persönlich sind mir viele Gedanken, Empfindungen und Fragen dazu ganz nahe gekommen, als ich sechs Wochen lang das Erkranken und Sterben meines Vaters erlebt und begleitet habe – erst im Krankenhaus und dann in der Geborgenheit des Hospizes Haus Porsefeld in Rendsburg.
Die letzten fünf Tage konnte ich dort als Gast mit leben. Ich weiß, dass mein Vater immer die Nähe zu vertrauten Menschen gesucht hat. Nach dem Tod meiner Mutter im Sommer 2022 war an seiner Seite eine große Lücke entstanden. Verluste und Trennungen gehörten zu den schmerzhaftesten Erfahrungen seines Lebens. Auf dem letzten Wegstück wollte ich ihn nicht allein lassen.
In diesen fünf Tagen als Gast im Hospiz habe ich durch die hier engagierten Menschen eine Haltung zum Leben und Sterben kennenlernen dürfen, die mich tief beeindruckt und als Angehörige spürbar mit getragen hat. Der Leitspruch der Hospizarbeit – „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“ (Cicely Saunders) – wird dabei täglich erfahrbar durch eine ehrliche und respektvolle Zuwendung, durch ein empathisches Begleiten bis zum letzten Atemzug und in der ersten Zeit darüber hinaus. Durch Wärme und Würde und mit einem feinen Gespür für die jeweils individuellen Bedürfnisse. Hier wird etwas gestärkt und vertieft, was weiter wirkt im dankbaren Erinnern an das gemeinsame Lebendigsein.
Das Lebendige im Werden und Vergehen
Zu meiner Zeit in diesem Haus gehörte auch das Durchatmen bei Spaziergängen in der Landschaft zwischen Obereider und Kanal, entlang der Steuobstwiese mit alten Apfelbäumen vor dem Haus. Ich spürte: Dünnhäutiger geworden nach den vielen Wochen der Begleitung auf der Grenze zwischen Leben und Tod wurde mir das Lebendige im Werden und Vergehen hier nochmal in ganz anderer Weise bewusst.
Passend dazu entdeckte ich während des Aufenthaltes in der dort ausliegenden Hospiz-Zeitschrift einen interessanten Beitrag über Permakultur, den ich als Thema so dort erstmal nicht erwartet hätte. Die damit verbundene Ethik umfasst einen achtsamen Umgang mit der Erde, mit den Menschen und mit den Ressourcen, die wir zum Leben nutzen und teilen.
In eben diesem Dreiklang vervollständigt sich für mich das Bild vom Werden und Vergehen – auch über das individuelle menschliche Leben hinaus.
Und noch ein Bild werde ich aus dieser Zeit mit in den Alltag nehmen: die vielen behutsamen Hände. Sie halten und streicheln, waschen und wärmen, tun und lassen. Sollte mich ein Kind mal fragen, wie man das fassen und verstehen kann, dieses Geheimnis vom Leben, vom Tod und dem „Danach“, dann werde mir die Hände vielleicht auch bei der symbolischen Beschreibung des Unfassbaren helfen:
Was Hände erzählen
Denn Hände können erzählen: Sie können mit einer großen Bewegung einen Kreis beschreiben, den Erdball mit der Atmosphäre, mit der Lufthülle der Erde, mit dem, was wir Himmel, Atem oder Geistkraft nennen.
Wenn sich die Hände beim Beschreiben des Kreises unten treffen, dann sieht es so aus, als wären die Hände eine Schale.
Viele werden sich an ein solches Bild als Symbol erinnern: Hände schweben schützend unter der Erde – so, als würden die Hände die Erde vor dem Absturz bewahren.
Für mich lässt sich das Bild noch anders lesen:
Nichts Lebendiges bzw. Organisches kann aus dem Kreislauf des Lebens herausfallen. Zwar sind es nicht unsere menschlichen Hände, die unbegrenzt alles bewahren können, sind sie doch selbst Teil der Verwandlung wie alles andere auch.
Aber diese symbolische Geste für das Bergende und Verbindende im Leben, im Tod und Wandel auf der Erde ist für mich tröstlicher und vielleicht auch für Kinder zugänglicher, als manche Bilder und Geschichten von einem fernen Himmel außerhalb des irdischen Daseins.
Eine Geste, die Raum lässt
Wer die Fragen und das Weltwissen der Kinder kennt, weiß, wie intensiv sie sich immer wieder über biologische Zusammenhänge des Lebens Gedanken machen.
Bilder und symbolische Vorstellungshilfen für Leben und Tod sollten Raum lassen, um dieses Wissen von der Welt zu integrieren – und offen zu halten für spirituelle Zugänge.
Die zur Schale geformten Hände erzählen als Bild von Halt und Verbundenheit in allen biologischen Prozessen der Verwandlung, des Zerfalls in Stoffe, die neu in den schöpferischen Kreislauf des Lebens eingehen: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Gleichzeitig lässt die Geste aber auch Raum für den Glauben: Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand – wie immer man sich diese vorstellen mag.
Für verschiedene Deutungen gilt: Symbolisch und auch ohne Worte drückt sich darin etwas Bergendes und Tröstliches aus, was nicht im Nebulösen verschwimmt – ob man die Geste nun biologisch oder religiös liest. Sie kann beides miteinander verbinden – und sie kann sich mit bewegen, wenn sich Vorstellungen im Laufe des Lebens verändern.
Die Geste des Aufgefangenseins trennt nicht zwischen Körper und Seele.
Für beides gilt: Nichts fällt heraus aus dem Kreis des Lebendigen.
In allem ist das Verbundene und Liebende mit aufgehoben, das wir im Leben erfahren und geteilt haben. Und auch das, was nicht heil und gut war. Es kann getrost losgelassen werden, zur Ruhe kommen und sich verwandeln.
Susanne Brandt
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