Sonntagsmomente: Das Schöpferische in der Kultur braucht Zäsuren in der Natur

Zwei ganz unterschiedliche Bücher begleiten mich durch diese Zeit: Das eine – „Der Anfang einer neuen Welt. Wie wir uns den Klimawandel erzählen, ohne zu verstummen“  – enthält fünf bemerkenswerte Essays der Kultur- und Medienwissenschaftlerin Birgit Schneider, die mich in meiner bibliothekarischen wie freiberuflichen Arbeit aktuell ganz wesentlich inspiriert und zum Weiterdenken herausfordert. Das andere ist ein in Deutschland neu erschienenens Bilderbuch der niederländischen Künstlerin Octavie Wolters. Das Thema: Wie singen wir von der Welt, die sich erst aus unterschiedlichen Perspektiven in ihrer ganzen Vielfalt wahrnehmen lässt? Dabei erschließt sich diese Frage in dieser Form bereits jüngeren Kindern – in seiner Mehrschichtigkeit aber auch Erwachsenen.

In der Bibliothek von Amsterdam kommt man an dem Buch – schon mehrfach preisgekrönt – kaum vorbei. Eine solche Wahrnehmung wäre ihm hier in Deutschland auch zu wünschen. Denn es offenbart sich als ein echtes Gesamtkunstwerk:

* Het zilveren penseel 2022
* Shortlist Jan Wolkersprijs 2022
* Nominatie World Illustration Award 2022

Aber zunächst zurück zu den Essays von Birgit Schneider:

In ihrem vielschichtig aus unterschiedlichen Perspektiven beschriebenen Bild der Klimakatastrophe stellt sie nach einer ungeschönten, beklemmend wirkenden Analyse zugleich die Frage nach der Hoffnung und nach der Vorstellungskraft für das dennoch Ermutigende. Dabei argumentiert sie ausdrücklich nicht im Sinne des Positiven Denkens mit rosaroter Brille, wenn sie schreibt:

„Ich verstehe das so: Nur wenn ich es schaffe, die Ängste weder zu negieren noch zu verbieten, aber trotzdem positive Geschichten, die glaubwürdig und sinnhaft sind, zu erzählen, kann ich eine optimistische und konstruktive Grundhaltung erreichen, um die Kraft für neue Möglichkeiten des Handelns zu erlangen.“ (vgl. Schneider, S. 83)

Dabei bezieht sie sich u.a. auf Jonathan Lears „Radikale Hoffnung“ (um nur einen ihrer zahlreichen Wegbegleiter*innen des Denkens zu nennen): Mit Lear beschreibt sie, wie eine solche Haltung nicht nur Furcht und Wagnis in Einklang bringt, sondern auch das Risiko zu hoffen eingeht – trotz des Unvermögens, das Neue zu denken, weil uns noch die Begriffe dazu fehlen.

Und sie kommt in diesem Abschnitt zu den Fazit: „Wir müssen den Mut aufbringen, auf etwas Gutes jenseits des Abgrunds zu hoffen“. (vgl. Schneider, S. 117)

Ein Lied für alle, die ihm lauschen wollen

Was wird in Ergänzung dazu nun mit dem Bilderbuch „Das Lied des Stars“ von der Hoffnung erzählt bzw. gesungen? Es beginnt damit, dass der Star – übewältigt von dem Schönen und Lebendigen, das er im Flug entdeckt – ein Lied davon singen will. Vorher aber hört er sich auch anderswo um. Denn die anderen Tiere sehen und hören andere Dinge, die ebenfalls zum Leben gehören: Bäume zwischen Himmel und Erde, Dunkelheit und Licht, das Wasser und die Steine, die von der Geschichte der Erde erzählen. Am Ende wird ein langes Lied daraus, das viele Stimmen, aber auch eigene Töne in sich trägt:

„Wenn du gut lauschst, dann hörst du es. Wenn du gut hinschaust, dann siehst du es.“

Illustriert ist das Buch mit schwarzen Linoldrucken auf weißem Grund. Lediglich Schnabel und Beine des Stars setzen gelbe Akzente. Die klaren Konturen wirken ausdrucksstark und lassen zugleich Freiraum, um sich die beschriebene Schönheit selbst auszumalen. Mit dem Verzicht auf ausgeschmückte Landschaftsidyllen und kitschige Beschaulichkeit treten die eigenen inneren Bilder, die von der poetischen Sprache geweckt werden, umso deutlicher hervor, lassen die Kinder erzählen und beschreiben, was sie sich dazu vorstellen oder weiter ausmalen mögen.

Darauf bin ich gespannt! Morgen schon werde ich das Bilderbuch mit Kindern in der Stadtbibliothek ausprobieren – mit der Möglichkeit, die Ideen und Bildvorstellungen der Kinder tatsächlich in ein gemeinsames Lied einfließen zu lassen, zu singen auf die bekannte Melodie von „Kuckuck, Kuckuck, rufts aus dem Wald“ mit einem neuen Text, der durch die Ideen der Kinder immer wieder neue Strophen bekommt:

Hör mal!

Sieh mal!

Sing, was geschieht:

…(hier texten die Kinder per Zuruf spontan selbst, z.B. „Sing von den Möwen draußen am Wasser“)

Sing vom

Leben

mit diesem Lied!

Noch weiß ich nicht, welchen Zugang die Kinder zu diesem Buch tatsächlich finden werden, ob sie sich darauf einlassen, ihre eigenen Naturerfahrungen mit Worten zu verbinden, ob zu dem Bilderbuch überhaupt innere lebendige Bilder bei ihnen wach werden. Das Buch schenkt Raum dafür – beschreibend, frei und sensibilisierend für das, was sich hören, sehen, singen lässt.

Vielleicht ein erster Schritt, um sich das Schöne und Kostbare zu vergegenwärtigen ohne das Bedrohliche und Bedrohte, von dem sie möglicherweise auch erzählen, auszublenden. Wir werden sehen…

 

Weitergedacht: Wo finden wir schöpferische Impulse für solche Lieder und Geschichten?

Im Sorgen, Denken und Tun für das, was in der aktuellen Krise alles gelöst und verändert werden muss, spüre ich im Alltag oft eine tiefe Sehnsucht nach solchen „Be-Sinnungs-Erfahrungen“, nach Entschleunigung – mit Musik und Poesie, beim vertiefenden Nachdenken und Wahrnehmen zu Fuß unterwegs im Freien, beim Lesen, Lauschen und Beschreiben.

Ich glaube, dass wir immer wieder Zeit und Ruhe brauchen, um aus lebendigen sinnstiftenden Erfahrungen heraus zu einer eigenen Haltung zu finden und von dort unser Verhalten neu auszurichten. Überspringen wir solche „Be-Sinnungs-Momente“, weil wir uns dazu gedrängt fühlen, eine Machbarkeit von vermeintlichen Lösungen nach der bisherigen Wachstumslogik mehr und mehr  zu optimieren, geraten wir schnell in einen Aktionismus und in einen Kampf um maximale Aufmerksamkeit, der eher erschöpft als schöpferische Wirkung entfaltet. Wir kennen diese Erschöpfung vermutlich alle. Dennoch werden dabei weiterhin gern Narrative der Nachhaltigkeit bemüht und Fakten als Tor zur Einsicht beschworen – und überschätzt!

Wirklich verändernde Visionen entwickeln sich anders. Um die Vorstellungskraft zu erweitern, um das Schöpferische in der Kultur zu entfalten, in anderer Weise vom Leben zu erzählen und im Austausch neue Bilder und kreative Ideen entstehen zu lassen, bleibt es wichtig, sich immer wieder zu vergewissern, was uns als Grund trägt, hält und bewegt.

Zum Beispiel mit „Zäsuren in der Natur“ – mitten im Alltag. Das schließt immer auch das Bedrohliche und Erstaunliche, die Realität von Endlichkeit und Neuwerden, den Schmerz wie das Glück angesichts des Unverfügbaren mit ein. Der Weg über diesen „unebenen Boden“ hilft jedoch dabei, Balance zu üben, sich zu erinnern an das Gefühl für Gleichgewicht,  zu einer Lebensweise zu finden, die über uns selbst und unsere begrenzte Perspektive hinausweist und nach dem sucht, was einem lebendigen Zusammenwirken gut tut.

Susanne Brandt

Zu den erwähnten Büchern:

  • Schneider, Birgit: Der Anfang einer neuen Welt. Wie wir uns den Klimawandel erzählen, ohne zu verstummen. Matthes & Seitz, 2023
  • Wolters, Octavie: Das Lied des Stars. Verlag Freies Geistesleben, 2023

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt