Von Wildwuchsgeschichten, Friedensbrücken und Nachterzählern – ein persönlicher Rückblick

 „Lust auf Sprache“ war das Thema bei der diesjährigen AKJ-Herbsttagung 2022 in Siegburg – und dazu gehörten vor allem anregende menschliche Begegnungen und intensive Gespräche mit Menschen aus ganz verschiedenen Bezügen zur Kinder- und Jugendliteratur.

Tief beeindruckt war ich am ersten Abend vom „Nachterzähler“, durch Cordula Carla Gerndt (www.geschichtenpraxis.de) und ihrer feinen Erzählkunst zum Leben erweckt. Mit Worten und Gesten spürte sie dem Wechsel von Licht und Dunkel nach und ließ im Glanz des Mondes lebendige innere Bilder entstehen. 

Um das Staunen über die inspirierende Wirkung der Elemente in der Natur ging es u.a. auch am Nachmittag des nächsten Tages. Da hatte ich Gelegenheit, mit den Teilnehmenden meines Workshops zu „Wildwuchsgeschichten“ bei sonnigem Spätherbstwetter zu erproben, wie gerade aus den kleinen feinen Naturräumen vor der Haustür ungeahnte Geschichten erwachsen können. Bilderbücher wie z.B. „Die Grube“ und ganz besonders „Der kleine Junge aus Papier“ mit seinen freien Entfaltungsmöglichkeiten regten dazu an, durch genaue Wahrnehmung und veränderte Perspektive die reizvolle Spannung zwischen dem Geformten und Wildgewachsenen als Quelle  der Phantasie zu nutzen – und dabei auch von Gianni Rodaris „Phantastischem Binom“ zu lernen.

„Wildwuchsgeschichten“ – das ist kein fest definierter Fachbegriff, sondern der Versuch, eine besondere Haltung beim Erzählen und Entwickeln von Geschichten und Gedichten – allein oder im Dialog – zu beschreiben: offen für das Unverfügbare von Poesie und Phantasie, bereit für dialogische Prozesse und kreative Mitgestaltung von Kindern und orientiert an der Wahrnehmung der Welt wie sie ist und werden könnte.

„Wildwuchsgeschichten“ – das können kleine Momentaufnahmen und Impressionen eines Augenblicks sein oder auch komplexere Geschichten, die sich daraus entfalten. Dabei geht es auf vielfältige Weise um die Verbindung von überraschenden, also „wild gewachsenen“ und damit nicht absichtlich arrangierten Motiven mit einer bewussten Gestaltung von Sprache als Ausdrucksmittel – mündlich oder schriftlich.

Wo solche Überraschungsmomente in der Umwelt zur Inspirationsquelle für gestaltete Sprache werden, erfährt die Kreativität erstaunliche Impulse. Die Wahrnehmung und Beziehung zu Natur und Umwelt wird intensiviert und mit Sinn verbunden.

Mehr dazu: https://waldworte.eu/2022/10/05/mit-worten-spielen-imagination-und-weltbeziehung-durch-wildwuchsgeschichten-heute/

Digitale Fotografie – mit Handy oder Tablet – kann beim Sammeln der Ideen und Momente helfen und anschließend zu einem Bilderbuch weiterverarbeitet werden.

Am Abend dann setzte sich für mich der aufgenommene Faden bei der Kinderlyrik-Lesung mit Michael Hammerschmid fort, der mit seinem Gedicht „die friedensbrücke“ eine „Bauanleitung“ der besonderen Art gab. 

(…)

was man braucht

setz es ein egal

ob groß

oder klein

alles zählt worte

taten gedanken blicke

(…)

(Aus: Michael Hammerschmid: die friedensbrücke, weiter Infos und kompletter Text: https://www.poesiegalerie.at/wordpress/2022/06/22/die-friedensbruecke/)

Vielleicht – so meine Hoffnung – können ja die am Tage so kreativ genutzten Erfahrungen mit „Worten, Taten, Gedanken, Blicken“ auch mit dazu beitragen, die Sehnsucht nach Frieden inmitten all der Konflikte und Dilemmata nicht aufzugeben und immer wieder an solchen Brücken mitzubauen. 

Ich denke ja, wir dürfen den vielen Sprachen in einer gefährdeten Welt eine verändernde Kraft zutrauen, wenn sich die Worte mit genauer Wahrnehmung des Schöpferischen in uns und um uns herum, mit Perspektivwechsel, hilfreichen Gedanken und Handlungen verbinden. Ob groß oder klein – alles zählt.

Deshalb also: Lust auf Sprache – mit Dank an alle, die an diesem Wochenende so vielfältig zu diesem Austausch beigetragen haben.

Susanne Brandt

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt