Zugegeben – wir haben unseren Garten in diesem Sommer vielleicht ein bisschen zu sehr sich selbst überlassen. Vieles ist die letzten Monate geschehen, Zeit und Kräfte waren an anderen Stellen gefordert. Davon unbeeindruckt blühte, wuchs und wucherte der Garten wild vor sich hin und bot uns und manchen Tieren, die dort Schatten suchten, immer mal wieder eine kleine Oase der Entspannung.
Ab und zu bin ich dann am Abend aber doch mal mit der Gartenschere durch die Staudenbeete gestapft, um verblühte und vertrocknete Halme und Triebe etwas runterzuschneiden. Bei den Stockrosen zum Beispiel – denn die bieten im Spätsommer zwar prall gefüllte Kapseln mit Saatgut, stehen davon abgesehen aber eher trist und hölzern in der Gegend herum und knicken früher oder später ein…Beim Runterschneiden darf man sich gleichzeitig auf das neue Wachsen und Blühen im kommenden Jahr freuen.
So auch in diesem Jahr. Bei einer Stockrose allerdings, hielt ich erstaunt inne. Zuerst habe ich sie gar nicht als Stockrose erkannt. Denn mitten im Beet erhob sich eine leuchtend grüne Säule, die die verblühte Stockrose geradezu liebevoll mit einem frischen grünen Blätterkleid ummantelt hatte: eine Zaunwinde.
Ich lese nach: „Die Echte Zaunwinde ist ein Hemikryptophyt und eine windende Kletterpflanze. Die Endabschnitte der Ausläufer bilden kurze Sprossknollen. Die vegetative Vermehrung erfolgt durch die weithin kriechenden Rhizome bzw. Bruchstücke davon, beispielsweise durch Wühlmäuse und Gartenarbeit. Sie wurzelt bis zu 70 Zentimeter tief.[1] Die Zaunwinde gehört wegen ihrer weit kriechenden, unterirdischen Rhizome zu den Kriechpionierpflanzen. Die Spitzen der Sprossachsen führen kreisförmige Suchbewegungen (eine Umdrehung in 1 h 45 min) von oben gesehen, entgegen dem Uhrzeigersinn durch (Linkswinder), um sich an einer geeigneten Unterlage emporwinden zu können.“ (Wikipedia)
Beim genauen Hinschauen der vielen Windungen, die die Zaunwinde um die Stockrose gedreht hat, stelle ich mir das bildlich vor: kreisförmige Suchbewegungen mit einer Umdrehung in 105 Minuten. Es gehörte also viel Suchen und geduldiges Winden dazu, um sich an der Stockrose vom Boden bis zu unsrem Küchenfenster hochzuarbeiten. So steht die verblühte graue Stockrose nun gut gestützt und neu ergrünt noch immer aufrecht um Beet, während die benachbarten Pflanzen längst umgeknickt oder vorher von mir gestutzt worden sind.
Mich rührt das einfach an: Die Zaunwinde nutzt die verholzte Stockrose als Halt zum Hochranken, aber die Stockrose wird dabei zugleich in ihrer Brüchigkeit stabilisiert und frisch eingekleidet. Ohne den Gewächsen da nun menschliches Fühlen zuschreiben zu wollen – das Bild des pflanzlichen Miteinanders ist für mich erstmal ein Grund zum Staunen über die faszinierende Entwicklung solcher Vorgänge.
Hinter unserem Küchenfenster wurde darüber heute am Frühstückstisch durchaus kontrovers diskutiert: So einen „Kriechpionier“ mit 70 Zentimenter langen Wurzeln im Garten zu wissen, weckt nicht nur Freude. Das heißt eben auch: Den wird man nicht so leicht wieder los. Denn siehe da: Wenn man da nicht eingreift – so wie in diesem Sommer – nutzt er die Freiheit aus und macht sich breit, wächst hoch, wächst tief, schlängelt sich lang…
Ja, so ist das und hat seine Zeit – das Wachsen und Verbinden, das Staunen und Bedenken, das Zurückschneiden und Trennen, das Neuwerden und Blühen im nächsten Jahr…
Irgendwann in den kommenden Wochen werde ich wohl auch hier die Gartenschere ansetzen. Bis dahin aber darf das, was da entstanden ist, so bleiben, sich weiter umeinander drehen und mir (hoffentlich) kein schlechtes Gewissen bereiten, nicht früher ordnend eingegriffen zu haben. Denn dann hätte ich vielleicht nie erfahren, was die Echte Zaunwinde mit ihrer erstaunlichen Suchbewegung in Verbundenheit mit der alten Stockrose zu erreichen vermag – und hätte nun nicht weiter darüber nachdenken können…
Susanne Brandt