Am 1. Weihnachtstag stehen wir im Garten. Frostige Kälte unter blauem Himmel. Da hören wir über uns tompetende Töne. Der Blick nach oben bestätigt, was die Rufe schon angekündigt haben: Kraniche! Vielleicht 20, vielleicht auch mehr. Wir zählen nicht. Wir staunen. Normalerweise verläuft der Vogelzugweg weiter im Osten, über Mecklenburg-Vorpommern. Auch ist der Dezember weder die Zeit für die Reise in den Süden noch für die Rückkehr.
Was soll das bedeuten?
Ich lese nach: Letzte Woche wurde in der Zeitung von Kranichen berichtet, die etwas weiter südlich von hier auf einem Maisfeld Rast gemacht hatten. Es kommt ja vor, dass einige im Norden überwintern. Es kommt auch vor, dass manche erst spät zur Reise in den Süden aufbrechen, wenn das Wasser gefriert und sich Schnee auf die Felder legt. Zweifellos sind klare Tage wie diese gute Reisetage. Aber warum ziehen diese Kraniche über unserem Garten Richtung Norden – ausgerechnet bei dieser Kälte?
Ich lese weiter und erfahre, dass Kraniche, die hier überwintern, gelegentlich Ausflüge unternehmen auf der Suche nach den rar gewordenen Rastplätzen mit etwas Futterangebot. 30 km Flugstrecke ist ihnen dafür nicht zu weit. Und die Himmelsrichtung ist bei solchen Rundflügen – so meine Vermutung – wohl nicht entscheidend. Es könnten also jene bereits in der Region gesichteten Kraniche über uns hinweg geflogen sein, die offenbar den Winter hier im Norden von Schleswig-Holstein verbringen. Die es nicht weiter in den Süden zieht. Das wäre zwar eher ungewöhnlich für diese Gegend, die etwas abseits von der Route liegt, aber nicht ganz unwahrscheinlich. Es könnte jedoch auch anders sein.
Wer weiß…
Was soll das bedeuten?
Am 1. Weihnachtstag sitze ich in der St. Petri Kirche. Heiligabend war die Kirche voll. Jetzt sind es wenige, die am frühen Abend den Tag hier ausklingen lassen. Traditionell wäre heute eigentlich ein Konzertgottesdienst mit großem Gesang und anschließendem Beisammensein dran. Ein fröhliches Wiedersehen für viele mit ehemaligen Schulfreundinnen und -freunden bei einem Glas Rotwein. Aber eben das lässt sich so „in Pandemie-Zeiten“ nicht mit der gewohnten Unbeschwertheit feiern. Also anders feiern: klein, leise, lauschend, fragend, staunend…
Statt großem Orchester ist eine einzelne Musikerin mit einem besonderen Instrument zu Gast: mit Nyckelharpa, in Deutschland auch als Schlüsselfidel bekannt. Ihre Geschichte reicht zurück bis ins Mittelalter. Aber in Schweden zum Beispiel, da ist Musik damit in der Folkszene noch heute lebendig. Und zu diesem Weihnachtsfest nun auch in unserer Kirche.
Die Orgel schweigt. Als Vorspiel erklingt Bach auf der Nyckelharpa, voll und weich im Klang durch die vielen Saiten, die bei jedem Strich mitschwingen. Für den Gemeindegesang, der ebenfalls mit diesem Instrument eingeleitet und begleitet wird, hat die Musikerin alte, eher volkstümliche Lieder vorgeschlagen: „Es kommt ein Schiff…“, „Leise rieselt der Schnee“ und:
„Was soll das bedeuten?“
Im evangelischen Raum gehört das alte Weihnachtslied aus dem 18. Jahrhundert eher selten zum Repertoire. Es scheint plausibel, dass es ursprünglich mit Hirtenspielen in Zusammenhang steht. In manchem erinnert es mit seiner Zärtlichkeit und dem Staunen der Hirten ein bisschen an das Kaschubische Weihnachtslied.
Als Herkunftsbezeichnung wird oft Schlesien angegeben. Es steht nicht im Gesangbuch und heute auch sonst nur noch in wenigen Liedersammlungen. Das war in den 1950er und 1960er Jahren anders. Mir ist es als Weihnachtslied aus der Kindheit sehr vertraut. Und ich freue mich, es heute nun nach langer Zeit wieder zu hören und zu singen.
Die Nyckelharpa-Spielerin stimmt uns behutsam mit einer freien Improvisation ein in die wiegende Melodie. Wir lauschen. Ohne Zeichen gelingt es, sich einzuhören und den Einsatz zum Mitsingen zu finden. Die Menschen nehmen die Schwingungen der Saiten auf – oder umgekehrt. Sehr viel zurückhaltender als die brausende Orgel singt das Instrument „auf Augenhöhe“ mit.
Was soll das bedeuten?
Der Text ist beschreibend und anrührend: Hirten nehmen etwas Ungewöhnliches am Himmel wahr. Sie können sich das Licht in der Nacht nicht erklären. Und doch machen sie sich auf – werden empfänglich für das Unverhoffte, staunen, wundern sich, reagieren zurückhaltend, aber dennoch berührt und mitfühlend, geben am Ende etwas her von sich und nehmen etwas mit…
Zuhause gehen mir die feinen Töne des Instrumentes und die Bilder des Liedtextes nicht aus dem Sinn. Auch die Kraniche mischen sich ein in die Erinnerung. Das Erstaunliche beim Blick zum Himmel…Und ich singe weiter – nun begleitet mit Improvisationen auf der Kalimba: harmonisch verfremdet, mit leisen Reibungen im Wechsel von Einklang und Dissonanz. Keine Stimme will die andere übertönen. Genaues Hinhören. Was kann zueinander finden? Eher tastend als festzuschreiben in einer gedruckten Partitur…wenigstens für heute.
Wer weiß…
Was soll das bedeuten?
Susanne Brandt