Sonntagsmomente: Gestaltungsfreiheit als Lebenskunst

Etwas gestalten – das meint zunächst: eine Form schaffen, die in sich ein Ganzes bildet und sich zugleich in Beziehung zur Umwelt ausdrückt. Das geht einher mit Sinn, Struktur und Kommunikation, die in der Gestalt bzw. im Gestaltungsprozess eine prägende Rolle spielen.

Gestalten, Gestaltung, Gestalt – das sind Begriffe, die sich je nach Bedeutungszusammenhang unterschiedlich beschreiben und verknüpfen lassen: mit Kunst, Kreativität und Ästhetik ebenso wie mit Gestalttherapie in der Psychologie oder mit Gestaltungskompetenz als Konzept im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung.

Auch wenn in den verschiedenen Bereichen jeweils andere Aspekte von Gestalt und Gestaltung  im Fokus stehen  – bei allem geht es um Entwicklung und Bewegung. Es geht um eine Formgebung, die mit dem Ringen um Stimmigkeit, mit der Erfahrung von Grenzen und Möglichkeiten wie mit der Beziehung zur Umwelt einher geht. Zur Gestaltung gehören immer auch Wechselwirkungen mit dem, was durch den Lebensraum und andere Menschen, durch die jeweilige Perspektive und unverhoffte Einsichten erfahrbar wird.

Mir persönlich ist der Begriff in den letzten Jahren vor allem im Kontext von Bildung für Nachhaltige Entwicklung wichtig geworden. Dort umfasst das Konzept von Gestaltungskompetenz gleich eine ganze Reihe von Teilkompetenzen. Poetischer ausgedrückt: Zur Kunst einer Lebensgestaltung mit weitem Horizont gehören viele Facetten, die sich in einem feinen Zusammenspiel formen und weiterentwickeln – nicht immer bruchlos und glatt, sondern vielmehr durchlässig für Veränderungen von innen wie von außen.

 

Gestaltung taugt nicht als Kampfbegriff

 

Es liegt angesichts der oft komplexen Herausforderungen, Zielkonflikte und immer auch unverfügbaren Einflüsse auf der Hand, dass ein solches Gestalten nie nach Rezeptbuch gelingen kann. Es gibt dafür nicht die eine richtige Formvorgabe. Es gibt keine sichere Vorhersage, wie das Ergebnis am Ende aussehen wird. Im Kern geht es um Beweglichkeit und Haltung, um Wahrnehmung und Kommunikation. Dabei können sich Vorstellungen und Handlungen herausbilden, die jeweils in sich schlüssig wie auch miteinander verbunden Gestalt annehmen – oft in einem längeren und dynamischen Prozess.

Anders als die Begriffe „Freiheit“ und „Grundrechte“ gehören Begriffe wie „Gestaltungsmöglichkeiten“ oder „Gestaltgebung“ nicht zu den kontrovers diskutierten Forderungen in der derzeitigen Krise. Vielleicht, weil sie nicht als Kampfbegriffe taugen, weil sie elastischer anmuten, für manche vielleicht zu schwammig. Oder auch: Weil sich Gestaltungsmöglichkeiten nicht in gleicher Weise einfordern lassen. Gestaltung setzt immer eine persönliche Bereitschaft zum eigenen konstruktiven Mitwirken voraus, den Mut zu Veränderungen und zugleich die Demut im Blick auf das Unverfügbare, das Ungewisse und Verletzliche.

Gestalter*innen sind keine Macher*innen. Sie bleiben unterwegs, üben Besonnenheit, nehmen vieles wahr und ahnen zugleich, dass es die eine, die einzige Wahrheit nicht geben kann.

 

Sieben Möglichkeiten zur Mitgestaltung

 

Auch in Zeiten, die stark von beschränkten Rechten und Freiheiten geprägt sind, bleibt ein bemerkenswertes Maß an Gestaltungsfreiheit unangetastet. Diese besondere Form der Freiheit drückt sich aus in sieben Möglichkeiten, die gegenwärtige Situation wahrzunehmen, zu begreifen und zu verändern.

Auch unter sehr begrenzten Umständen bleiben wir frei…

  • Situationen und Erkenntnisse aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und zu reflektieren
  • Vorstellungen von Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Liebe, Umsicht zu vertiefen und für Entscheidungen und Handlungsweisen zu nutzen
  • Zielkonflikte und Dilemmata zu erkennen und zu berücksichtigen
  • Gefahren und Unsicherheiten abzuwägen
  • Empathie für andere zu zeigen
  • selbstständig wie auch gemeinsam mit anderen zu planen und zu handeln
  • sich und andere zu motivieren, aktiv zu bleiben

 

Zeiten, die nicht sofort auf alles eine Antwort zulassen

 

Ich notiere diese Gedanken in einer Situation, die sich als ausgesprochen unfrei beschreiben ließe. Mir wurde vom Gesundheitsamt eine vorsorgliche Quarantäne verordnet: keine einsamen Spaziergänge in der Natur, keine Besuche, keine Haustürkontakte, nicht mal ein schneller Weg zum Briefkasten an der Ecke – alles das ist für mehr als eine Woche (obwohl ich mich fit und gesund fühle) nicht erlaubt. Zweifellos ein Eingriff in meine Bewegungsfreiheit und damit zugleich eine Beschränkung von dem, was meine Lebensqualität in starkem Maße ausmacht.

Ob eine so umfassende Auflage als Vorsichtsmaßnahme in allen Aspekten angemessen ist, ob der abgeschiedene Weg durch den Wald nicht doch zu verantworten wäre? Wie so vieles in dieser Zeit der Regeln und Verordnungen ist auch das nicht sicher zu beantworten – weder für mich noch für all jene, die mit solchen und vielen anderen Vorgaben die weitere Ausbreitung eines Infektionsgeschehens sinnvoll einzudämmen versuchen. Fragen bleiben. Aber auch Respekt all jenen gegenüber, die sich um die Gesundheit vieler Menschen unermüdlich Gedanken machen, wohl wissend, dass dabei so manches schmerzliche Dilemma nicht zu umgehen ist.

 

Was uns verbindet

 

Das verbindet uns: diese fehlende Gewissheit, dieses Ringen mit schweren Entscheidungen und Zweifeln, dieses Erleben von Zeiten, die nicht sofort auf alles eine Antwort zulassen, dieses Gestalten eines Geschehens, das im Leben eines und einer jeden Einzelnen wie gesamtgesellschaftlich Irritationen und Verletzungen, aber auch Solidarität und so manche Neuorientierung auslöst.

Die Gefahr dabei: Wo Menschen mit dem so empfundenen Freiheitsverlust, mit der oft schwer auszuhaltenden Verunsicherung auch der eigenen Gestaltungsfreiheit keine Energie und Beweglichkeit mehr zutrauen, wächst möglicherweise die Anfälligkeit für das Gefühl, einer perfiden, „von oben“ gesteuerten und kontrollierten Bevormundung ausgeliefert zu sein. Lässt man sich auf diese Opferrolle ein, öffnen sich die Türen zu Verschwörungstheorien leichter. Schnell gerät man dabei auf eine eingleisige Strecke. Und die führt im rasanten Tempo weg von dem, was wir an Vernetzungen und Verbindungen der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten und Lernerfahrungen jetzt so dringend brauchen.

Nein, auch in der begrenzten Situation der Quarantäne schränkt niemand meine Gestaltungsfreiheit ein. Vieles lässt sich weiterhin leben, entdecken, entscheiden und genießen, solange ich den sieben Möglichkeiten der Mitgestaltung vertraue, ihnen nachspüre, manches davon durchspiele, verwerfe, Geduld übe, eine passende Form dafür suche, staune über das, was sich da neu herausbildet – nicht nur in Krisenzeiten.

 

Susanne Brandt (Gedanken zu Corona im Januar 2021)

 

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt