„Geschichten erzählen…und weiterdenken“ – so hatte ich hier vor einem Monat einen Beitrag zu den Chancen und Entdeckungen im internationalen Austausch mit engagierten Frauen in verschiedenen Teilen der Welt – gerade jetzt unter dem Eindruck von Corona – überschrieben. Gemeinsam hatten wir seit Mitte März Erfahrungen ausgetauscht zur Bedeutung des Erzählens in Zeiten der Verunsicherung, wollten voneinander lernen und miteinander darüber nachdenken, wie Kinder in dieser Zeit unter ganz unterschiedlichen Bedingungen Mut und Vertrauen entwickeln können durch die Kraft von Geschichten.
„Geschichten erzählen…und weiterdenken“ – das hat seither in vielfältiger Weise eine Fortsetzung gefunden: mit Ellen und Freshta, Daniela, Anna und vielen anderen.
Von einem Beispiel möchte ich heute etwas ausführlicher erzählen:
Dass ich davon erzählen kann, habe ich Pearl Afua Acheampong aus Ghana zu verdanken, die sich mit ihrer Initiative Pearple Read für verbesserte Zugänge zu Büchern und Bildung vor allem in ländlichen Regionen engagiert. Sie beschenkt mich seither mit wertvollen Hinweisen auf Geschichten und Bücher, die in Ghana von besonderer Bedeutung sind.
Zu ihren Empfehlungen gehört auch das Bilderbuch „The Kente Curtain“, geschrieben von Franka Maria Andoh, die ebenfalls in Accra/Ghana lebt. Dort ist Frankas Engagement von einer beeindruckenden Vielseitigkeit geprägt: Sie schreibt und veröffentlicht Kinderbücher und Geschichten, hat Erfahrungen mit Filmarbeit gesammelt, leitet seit vielen Jahren ein beliebtes Café, engagiert sich für Straßenkinder und hilft mit in einer Suppenküche. Auch die Unterstützung von Frauen gehört zu ihren besonderen Anliegen. Dabei erlebt Franka nach eigenen Aussagen das, was sie tut, als einen Entwicklungsprozess mit der Chance, an den Aufgaben weiter zu wachsen.
„The Kente Curtain“ richtet sich an Kinder ab etwa 5 Jahren. Es ist auch in Deutschland erhältlich und erschließt sich mit einem kurzen, reich illustrierten englischen Text recht mühelos, so dass die Geschichte leicht sinngemäß in deutscher Sprache zu den Bildern von Enoch Yaw Mensah nacherzählt werden kann.
Auch mit deutschsprachigen Kindern durchs Fenster schauen…
In dem Buch geht es darum, die Vielfalt und Schönheit verschiedener Kulturen zu entdecken. Die Autorin erzählt von einem kleinen Jungen namens Paul, der durch die Kraft von Worten und Geschichten, Farben und Fantasie einen Bezug zu den verschiedenen Wurzeln in seiner Familie findet und sich so zu eigenen Gedanken und Vorstellungen inspirieren lässt. Denn Paul lebt in Chicago, hat eine afroamerikanische Mutter und einen in Großbritannien geborenen Vater mit ghanaischer Abstammung. Besonders durch seine Großeltern fühlt er sich auf besondere Weise mit der Kultur von Ghana verbunden.
Diesen doppelten Blick ins Leben und in die Welt drückt Franka M. Andoh in dem Buch durch den Blick durch zwei Fenster im Zimmer von Paul aus: Vor dem einen hängt eine Gardine mit einem modernen Skyline Design. Das andere Fenster ist mit einem Kente-Stoff[1] geschmückt.
Paul und die Geschichte von Paul…
Wenn Pauls Vater abends noch eine Weile an seinem Bett sitzt, erzählt er ihm gern Geschichten. Eine Geschichte möchte Paul immer wieder hören – eine Geschichte, in der er selbst vorkommt:
Auch in dieser Geschichte gibt es diesen Vorhang aus Kente-Stoff. Und während Paul die Muster und Farben betrachtet und sich vorzustellen versucht, wie dieser Stoff wohl gemacht ist, wird er plötzlich von einem geheimnisvollen Wind umweht. Mit dem Wind verwandelt sich das Fenster in das Bild eines Waldes. Und schon ist er mittendrin in der Natur, weit entfernt von Chicago, und umgeben von Tieren, Pflanzen und Geräuschen, die ihn an die Bilder und Geschichten seiner Großeltern aus Ghana erinnern.
Bald kommt es in diesem Wald so wundersamen Begegnungen und am Ende ist es ein Spinnennetz, das in ihm eine Vorstellung von der feinen Webkunst des Kente-Stoffes weckt.
Erfüllt von so vielen Eindrücken sucht er den Weg zurück und landet wohlbehalten in seinem vertrauten Bett in Chicago – zwischen den beiden Fenstern.
Wörter beflügeln die Fantasie und Vorstellungskraft
Pearl hat mir in ihrem Brief dazu erläutert, wie vielschichtig das Erleben von verschiedenen Kulturen und das Erzählen von Märchen und traditionellen Motiven – auch im Kontext von Familiengeschichten – miteinander verbunden sind.
Genau davon wird in dem Buch vieles spürbar: Der Blick durch zwei Fenster in die Welt hilft dem Kind, das in seiner Familie verschiedene Kulturen und Traditionen erlebt, beim Hineinwachsen in diese Verschiedenheit.
Und die Worte, die der Vater mit seinen Geschichten dafür findet, beflügeln die Fantasie, lassen das Kind eigene Worte finden, werden vielleicht zu neuen Geschichten…
„Wie kommen die Wörter in meinen Kopf?“, fällt mir da als Frage wieder ein – so wie sie vor zwei Jahren bei unserem Projekt „Das weiße Blatt“ von einem Kind formuliert worden ist. Für Paul in der Geschichte aus Ghana könnte die Antwort heißen: durch den Zauber des Waldes, durch Farben und Muster, durch die Stimme des Vaters und einen warmen Wind, der manchmal durchs Fenster weht…
Susanne Brandt / (Gedanken zu Corona im Juni 2020)
Bezugsquelle zum Buch: https://www.indigene-africa.com/product/the-kente-curtain-book/
[1] Kente ist ein Stoff, der von den Angehörigen der Akanvölker in der Elfenbeinküste sowie der Ewe in Ghana hergestellt wird und früher nur von Königen getragen werden durfte.
Geometrische Motive, die Fischen, Vögeln, Früchten, Blättern, Sonnenuntergängen, Regenbogen und anderen Anblicken in der Natur glichen, brachten eine bis ins kleinste Detail genaue Webkunst mit Symbolcharakter hervor. Jedes Muster hat einen eigenen Namen und steht für ein Sprichwort oder ein Ereignis.
Mehr zum Kentestoff: https://de.wikipedia.org/wiki/Kente