“Das Neue in uns…” – eine Woche im September 2019

Vor vier Jahren, am 25. September 2015,  verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der Welt die Ziele der nachhaltigen Entwicklung als Agenda 2030. Viele Menschen wissen das. Und sie orientieren sich daran: bei der Ernährung, bei der Gestaltung des Gartens, bei der Wahl von Bekleidung und Gebrauchsgütern, bei der Energieversorgung, bei der Fortbewegung auf Reisen und im Alltag, durch Vermeidung von Abfall, durch Engagement für Frieden und Gerechtigkeit, in der Nachbarschaftshilfe, bei internationalen Projekten…Es gibt viel, was Einzelne und zivilgesellschaftliche Gruppen tun können und täglich zur Veränderung beitragen. Das macht Mut.

Aber nicht allein um das, was bereits Tag für Tag passiert und weitere Kreise ziehen kann, geht es an diesem Jahrestag. Auch nationale und lokale Regierungen, große Konzerne und Medien auf  der ganzen Welt sind aufgerufen, sich auf die Ziele zu besinnen. Denn auch das gehört bei mir und vielen anderen zu den Erfahrungen im Agenda 2030-Prozess: Es droht sich ein Graben zu vertiefen zwischen dem, was aus der Gesellschaft heraus gerade auch bei jungen Menschen in Gang gekommen ist und dem, was aktuell an politischen Entscheidungen noch weit dahinter zurück bleibt. 

Die letzten Tage vom 20. bis zum 30. September standen weltweit unter dem Zeichen von #act4sdgs. Viele Menschen haben ihr Anliegen bei Demonstrationen auf die Straße gebracht  oder bei besonderen Aktionen mit anderen geteilt. Aber es gab auch enttäuschende Tage. Frustration. Empörung. 

Wie umgehen mit diesem Gemisch aus Leidenschaft und Ernüchterung? Welche Begegnungen sind mir dabei in den letzten Monaten wichtig geworden? Was für Bilder begleiten mich? Welche Rolle spielt Kultur, spielen Kunst und Literatur in diesem Kontext?

Aus dem Tagebuch der vergangenen Woche….

So viele – am Freitagmorgen

An der Hafenspitze in Flensburg füllt sich der Platz mit Menschen. Vor allem junge, aber auch ältere sind dabei. Erst ist von 1000 die Rede, dann von 2000, von 3000 vielleicht. Aber auf die genaue Zahl kommt es nicht an. Es kommt darauf an, dass deutlich wird: Nicht nur hier ist etwas in Bewegung. Überall. In Kiel. In Hamburg. In Berlin. Weltweit.

Während wir als große Schar Richtung Nordertor weiterziehen, erreichen mich per Handy Bilder und Nachrichten von Ellen Lindsey Awuku aus Ghana. Ich hatte sie im Mai beim SDGClub Berlin, einem Treffen von Aktiven aus aller Welt zur Agenda 2030 kennen gelernt. In Ghana gilt sie als Anwältin für Jugendbeteiligung.

Was uns verbindet, ist das Anliegen, Kinder und Jugendliche zu ermutigen, Fragen zu stellen, mit wachen Augen in die Welt zu schauen, Gestaltungskompetenz zu entwickeln, Möglichkeiten und Visionen zu wagen und konkret umzusetzen. Hier in unseren Büchereien geschieht das mit jüngeren Kindern durch Buchwerkstätten, durch Erzählen und Gestalten, durch Entdecken und Mitmachen.

Auch in Ghana gehört eine kleine Bücherei dazu. Lesen als Voraussetzung für Mitbestimmung. Und die geschieht in Ghana auf vielfältige Weise. Es geht den Jugendlichen in Ghana um deutliche politische Forderungen, die sie kraftvoll und mutig einfordern. Ich bin dankbar für die Motivation, die von dieser fröhlichen jungen Frau ausgeht.

Etwa zur gleichen Zeit wie hier in Flensburg ist auch sie heute in Ghana mit vielen jungen Menschen auf der Straße. Auf den Fotos in Netz fällt mir die starke Beteiligung von jungen Frauen auf. Ein Film zeigt Ellen, wie sie eine Petition an die Regierung verliest, erarbeitet und unterschrieben von vielen jungen Menschen. Das Engagement wird dokumentiert von “Young Reporters for the Environment – Ghana”.

Ellen Lindsey Awuku kann mir und vielen anderen in Erinnerung rufen: Was wir hier tun, ist von weltweiter Relevanz und die Entscheidungen, die hier zu treffen sind, müssen mutig genug sein, um die kurzsichtige Interessenpolitik einzelner Länder zu überwinden.

Zu wenig – am Nachmittag

Meine erste Reaktion nach Bekanntgabe der Verhandlungsergebnisse aus dem Klima-Kabinett: Enttäuschung. Unverständnis. Fragen.

Ist das jetzt ein mühsam errungener Kompromiss nach einer zähen Verhandlungsnacht, in der für mehr keine Energie mehr übrig war? An dem Wissen, dass deutlich kraftvollere Maßnahmen dringend nötig wären, wird es sicher nicht gefehlt haben.

Aber wer bei der Pressekonferenz genau hinhört, hört auch das: Es soll kontinuierlich nachgesteuert werden. Ich habe große Zweifel, ob das nach diesen ersten Ergebnissen und mit dieser Besetzung wirklich zügig und wirksam geschehen kann. Aber zumindest lässt das noch was offen, muss im Auge bleiben und immer wieder eingefordert werden. Entscheidend bleiben Motivation statt Resignation, Beteiligung statt Ignoranz, um eine rasche Weiterentwicklung voran zu treiben. Denn viele Menschen haben sich mit dem, was sie an sozialen und ökologischen Verhaltensänderungen selbst tun können, bereits auf den Weg gemacht, erwarten aus vielen guten Gründen eine wirksamere und schnellere Umsteuerung bei Energie, Mobilität und sozialer Gerechtigkeit im globalen Kontext und werden sich nicht einfach abfinden mit den Schwächen der bisherigen Beschlüsse. Unmissverständlich muss deutlich werden: Hier geht es um wesentliche Grundrechte. Und die brauchen Transparenz und Glaubwürdigkeit statt Zaudern und Vertröstungen bei Entscheidungen, die die Zukunft des Lebens so elementar betreffen.

“Die Zukunft zeigt sich in uns …” – am Samstag

Ein Spaziergang über das Gelände der NordArt in der Abenddämmerung: Ich bleibe stehen vor der Skulptur „Balance on a tight rope“  von Richard Brixel: eine Frau, aufgerichtet, mit Haltung und Balance.

Mir kommen Ellen Lindsey Awuku und ihre mutigen Mitstreiterinnen in Ghana wieder in den Sinn. Dazu die Widmung von Hilde Domin zu ihrem Gedichtband „Nur eine Rose als Stütze“: “Ich setzte meinen Fuß in die Luft, und sie trug”.

Poesie und Ermutigung, Kunst und Engagement – das geht mitunter auf erstaunliche Weise zusammen. Ich denke zurück an unser gemeinsames Treffen beim SDGClub in Berlin, das ebenfalls unter einem literarischen Zitat stand, ausgewählt aus Rilkes „Briefen an einen jungen Dichter“: „Die Zukunft zeigt sich in uns, lange bevor sie eintritt“

Bei Rilke heißt es dazu – Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben – ausführlicher: „Weil wir mitten in einem Übergang stehen, wo wir nicht stehen bleiben können, geht die Traurigkeit auch vorüber. Das Neue in uns, das Hinzugekommene, ist in unser Herz eingetreten. […] Wir werden es vielleicht nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür, daß die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln.“ (Rilke: Briefe an einen jungen Dichter)

Rilke, Domin und alle, die der stärkenden und verwandelnden Kraft der Poesie trauen, wissen, dass Worte allein nicht die Welt verändern. Wohl aber können Worte, die mehr sind als Worthülsen und leere Versprechungen, kann Kunst in ihren vielen Ausprägungen eine Tiefe ansprechen, aus der heraus ein starkes Handeln und Bewegen möglich wird. Im Sinne von Rilke bedeutet das: Lange bevor die Zukunft tatsächlich eintritt, zeigt sie sich in uns: in Bildern, Gedanken, Visionen, Befürchtungen…und motiviert zum Umdenken.

Das ist eine Chance. Darin erweist sich die Kraft der Literatur, der Kunst und aller Stimmen, die unserer Vorstellungskraft und unserem Möglichkeitssinn, unserem Mut zu Visionen und unserer Haltung beim Weitergehen Spannung, Ausrichtung und Energie geben – auch auf schwierigen Wegstrecken.

„Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will,“ hieß es mit einem weiteren Zitat aus Rilkes Briefen am Ende des Mai-Treffens in Berlin. Denn das Schreckliche bleibt. Diese Spannung gilt es auszuhalten. Doch wo wir angesichts der Bedrohung eben gerade nicht der Ohnmacht und Hilflosigkeit das Feld überlassen, bleibt vieles möglich. Dazu können uns gerade Bilder, Geschichten, Gedichte immer wieder motivieren.

Durch Geschichten bewegen – am Mittwoch

Andere Bilder und andere Worte: Was stellen sich Kinder im Vor- und Grundschulalter vor, wenn sie über die Zukunft nachdenken? Wie drücken sie ihre Gedanken aus und was für Gespräche und Ideen werden davon angestoßen? Einige überlegen: Dürfen Menschen gegen Menschen sein? Warum darf man Mücken töten? Was passiert mit dem ganzen Müll? Wie entsteht eigentlich Zukunft?

Seit rund zwei Jahren beschäftigen mich solche Frage, die nicht zu fertige Antworten, sondern zum Weiterdenken und Handeln führen. Eigentlich schon sehr viel länger, aber seit 2017 gehören die Fragen zu den Schwerpunkten meiner Arbeit für und mit Bibliotheken. Dankbar bin ich für Kooperationen und Partnerschaften, die sich dabei ergeben haben. Zum Beispiel mit den Bücherpiraten e.V. in Lübeck, einem Kinderliteraturhaus, das genau dafür Raum und Gemeinschaft schenkt. So bietet z.B. die dort entwickelte Plattform www.bilingual-picturebooks.org hervorragende Möglichkeiten, um mit Kindern gemeinsam die Welt zu entdecken, die Wahrnehmung zu sensibilisieren und Gestaltungsmöglichkeiten zu erproben. In Texten und Bildern der Kinder selbst kommt davon etwas zum Ausdruck und findet hier als mehrsprachiges Buch eine Form, die als Geschenk an andere Kinder der Welt weiterwirkt.

Genau darum geht es heute: Bei einem Workshop der Bücherpiraten tauschen wir uns mit Kolleginnen aus Bibliotheken aus, entwickeln neue Ideen und überlegen: Wenn Kinder anderen Kindern ihre Welt und ihre Hoffnungen zeigen – was ist ihnen wichtig dabei?

Bildung für nachhaltige Entwicklung  – das heißt eben auch: den Blick auf die Welt weiten und Kinder dazu ermutigen, eigene Fragen und Gedanken zu artikulieren und das Verhalten im Alltag zu überdenken.

Wir können den Kindern nicht beantworten, wie die Welt 2030 aussieht. Aber wir können vermitteln, dass es wichtig ist, alle Sinne auf die Umwelt zu richten, das Kostbare wie das Gefährdete wahrzunehmen, Konsequenzen für das eigene Handeln zu erkennen und weiterhin Fragen zu stellen. Mit Menschen, mit Büchern und Bildern können sie erfahren, was es heißt, “in Geschichten zu denken”. Das ist mehr als “Informationen” zu verarbeiten. Das geschieht durch Menschen und in Beziehungen. Das zeigt Sinnzusammenhänge und stiftet Vertrauen. Das kann sich entwickeln und vertiefen. Das wird von Emotionen begleitet und berührt die Seele. Unverfügbar. Zum Glück.

Netzwerkeln im ICE – am Samstag

Wir haben uns nicht verabredet. Zufällig sitzen wir uns gegenüber. Bald kommen wir ins Gespräch: erst mit einem pensionierten Förster, der von seinen Ideen einer naturnahen Waldwirtschaft erzählt. Später dann mit einer engagierten jungen Frau, die auf eine  berufliche Zukunft zur Entwicklung von Nachhaltigkeits-Strategien in der Wirtschaft hofft, in Projekten mit Jugendlichen Erfahrungen sammelt, spannende Pläne hat…Wir hören einander zu, regen uns gegenseitig an, verbinden Ideen miteinander, tauschen schließlich Links und Kontaktdaten aus.

Reisen mit der Bahn – das ist nicht nur ökologisch sinnvoller als per Auto oder Flugzeug  unterwegs zu sein. Das öffnet auch Chancen für unverhoffte Begegnungen und gemeinsames Weiterdenken. Beim Aussteigen nimmt jeder etwas mit davon. Auf ganz verschiedenen Wegen. Vielleicht lässt sich daran noch anknüpfen…

 

Susanne Brandt

Quellen zum Weiterlesen

Über Ellen Lindsey Awuku:

https://ghana.actionaid.org/stories/2018/ellen-lindsey-awuku-passionate-about-youth-advocacy

Zum Aufruf beim SDGClub in Berlin:

Open SDGclub.Berlin

https://www.nachhaltigkeitsrat.de/wp-content/uploads/2019/06/Open_SDGclub_Berlin_2019_Call_DE.pdf

 

Über Nachhaltigkeit und Kultur:

Umsetzung der Agenda 2030 ist eine kulturelle Aufgabe

file:///C:/Users/uno/Downloads/Nachhaltigkeit%20Kultur%20-%20Inspirationen%20zur%20Einstimmung.pdf

www.nachhaltig-erzaehlen.de

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Flensburg oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt