Was ich als Lektorin nicht missen möchte: die monatliche Vorlese-Stunde in der Stadtbibliothek Flensburg. Ich lasse mich einfach so gern von den Kindern überraschen, die hier Gelegenheit bekommen, neue Bilderbücher kennenzulernen – und dabei oft ganz andere Dinge entdecken und liebgewinnen als ich mir das mit den Büchern allein am Schreibtisch hätte vorstellen können.
Wie heute z.B.: Da hatte ich neben anderen ein Bilderbuch der japanischen Künstlerin Akiko Miyakoshi dabei und war gespannt, wie die Kinder – diesmal etwa zwischen 3 und 8 Jahre alt – auf die überwiegend schwarz-weißen Kohlezeichnungen reagieren.
Mir persönlich war das Buch mit einem feinsinningen Anklang an das Märchen vom Rotkäppchen gleich beim ersten Durchschauen als etwas ganz Besonderes aufgefallen. Aber ich war mir nicht sicher, ob es den Kindern ebenso gut gefällt.
Tut es! Ich habe es lange nicht mehr erlebt, dass Kinder – die Jüngsten wie die Älteren gleichermaßen – sich so intensiv von der Magie der Geschichte und der atmosphärischen Stimmigkeit der Illustrationen berühren lassen: Da stapft ein kleines Mädchen durch den Schnee, um der Großmutter ein Kuchenpaket zu bringen, das der Vater zuhause vergessen hatte. Vermutlich geht sie den Weg durch den Wald das erste Mal allein. Erst zögert die Mutter – dann traut sie ihr zu, dass sie das schaffen kann.
Keine Superheldinnen-Geschichte
Und dann fällt das Mädchen. Der Schnee ist weich, aber die Kuchenschachtel nimmt Schaden – und ihr Mut, den Weg allein zu schaffen, vielleicht auch. Als sie sich aufrappelt und versucht, der Spur des Vaters zu folgen, kommt sie an ein seltsames Haus und wird von einer lustigen Tiergesellschaft zum Tee geladen…
Spätestens jetzt sind die Kinder ganz tief drin in der Magie dieses neuen alten Märchens, haben sich schon auf dem Weg dorthin gut in die Not des Mädchens hineinversetzen können und sind nun fasziniert von der fröhlichen Teerunde mit Musik, die das Mädchen so freundlich aufnimmt und am Ende sogar – mit frisch gepacktem Kuchenpaket – bis zum Haus der Großmutter begleitet.
Endlich am Ziel, möchte sich das Mädchen nochmal zu den Tieren umdrehen. Aber da ist nur noch der große dunkle Wald, der nun hinter ihr liegt.
In einer Rezension zum Buch heißt es treffend: „Das Schwierigste daran, Kinder alleine etwas unternehmen zu lassen, ist, ihnen die Möglichkeit zuzugestehen, dass es nicht klappt.“ (Globe and Mail, Toronto)
Mag sein, dass die Kinder genau das spüren: Das Mädchen wird nicht – wie in vielen anderen Bilderbüchern – zur Superheldin, die ihre Angst überwindet und am Ende alles schafft. Beim Sturz im Schnee kommt sie an ihre Grenzen. Und dass sie am Ende doch noch wohlbehalten bei der Großmutter ankommt, ist nicht auf eigene Superkräfte zurückzuführen. Sie hat auf Hilfe gehofft und sie hat auf wundersame Weise Begleitung erfahren. Mehr muss man dazu nicht erklären.
Immer wieder haben mich die Kinder am Ende gebeten, das Buch nochmal durchzublättern und innezuhalten bei den Doppelseiten mit der freundlichen Tiergemeinschaft, von der niemand weiß, wo sie hergekommen und wo sie am Ende geblieben ist. Als wollten sie sich vergewissern, dass das alles tatsächlich so passiert sein könnte. Wer weiß…
Mehr zum Buch: https://www.carl-auer.de/programm/artikel/titel/die-teestunde-im-wald/