Die vergangene Woche war bei mir stark geprägt von Begegnungen und Gesprächen mit Menschen aus verschiedenen Ländern. Und von der Begegnung mit Geschichten, die nah und fern von prägenden Dingen des Alltags erzählen – von Nähmaschinen zum Beispiel…
In Lübeck hatten die engagierten “Bücherpiraten” zum 1. Norddeutschen Leseförderkongress unter dem Motto “Geschichten öffnen Welten” eingeladen. Es ging darum, sich gemeinsam auf eine Entdeckungsreise zu begeben durch die Welt der Geschichten, einzutauchen in die weltweite Poesie des Alltags – mit sinnlichen Erfahrungen, Bildern, Spielen, Geschichten, Erinnerungen. Denn Sprache geschieht nie isoliert, sondern immer verbunden, verwoben, eingebettet in das Handeln und Bewegen der Menschen. So galt es, der “Gefahr einer einzigen Geschichte” etwas entgegen zu setzen: Fantasie, Vielfalt, Neugier, Offenheit für das Ungewohnte – und die Lust an der Begegnung….
Wo aber findet man solche Geschichten, die mehr als eine Perspektive oder Vorstellung offenbaren? Zunächst vor allem im Erzählen der Menschen und in den manchmal nur “ganz nebenbei” beschriebenen Momenten der Erinnerung. Alles das können wir als etwas Einzigartiges und Wertvolles achten, miteinander teilen und sammeln, verbinden und lebendig halten – vielleicht in Bildern, Erzählungen oder Gedichten, die sich betrachten, deuten und lesen lassen. Ein Versuch…
Zärtliche Schleifen
Mit der Hand
gab deine Mutter
dem Rad seinen Schwung
immer wieder,
dass die Nähmaschine im Rhythmus surrte,
im Rhythmus von Sorge und Mut.
Mit dem Mund
gab sie Worte
für all ihre Kinder,
viel Zeit blieb nie,
doch genug
für die kleinen zärtliche Schleifen
an jedem Namen,
wenn sie nach euch rief.
Immer noch
lebt die Stimme in dir,
lässt den Faden
nicht reißen.
Susanne Brandt
Was bei dem Kongress als Thema und Erfahrungsaustausch natürlich besonders im Mittelpunkt stand: Bücher und die Lust am Lesen spielen eine entscheidende Rolle, um all diese Geschichten, Gedichte und Bilder in ihrer ganzen Vielfalt mit den Erfahrungen, Gedanken und Träumen der Menschen zu verbinden.
Damit bin ich wieder bei den Nähmaschinen: Die Alltags-Geschichten von den nähenden Müttern und Vätern, Brüdern und Schwestern, die mir von Geflüchteten oft erzählt werden, lassen mich z.B. das Bilderbuch von “Onkel Flores” in besonderer Weise lesen. Sie können für viele Menschen in aller Welt zu einer Brücke zwischen Leben und Literatur werden – zu einer Brücke, die Möglichkeiten öffnet, an die im Leben schon kaum mehr jemand glauben mag: http://waldworte.eu/2016/03/07/bilderbuch-tipp-mit-farben-und-lebensfreude/
Vielleicht ist es das, was uns vor der “Gefahr einer einzigen Geschichte” bewahrt: dieses genaue Hinschauen und Zuhören – überall und immer wieder neu. Dieser Sinn für die besonderen Momente, Farben und Formen des Erinnerns, an denen Menschen uns teilhaben lassen. Diese Aufmerksamkeit für die Poesie in solchen Alltagsmomenten, die sich auf so vielfältige Weise weitersagen und entfalten lässt, manchmal den Weg in wunderbare Bücher findet – und sich mit den Büchern dann wieder einen Weg in die Welt sucht: als Ermutigung zum Leben.
Susanne Brandt