„Suche nach dem Lebendigen“ – die Anthologie “Von Fluchten und Wiederfluchten”

Manche Bücher sind wie Bibliotheken: Da fängt man nicht am Anfang des „Regals“ an zu lesen und arbeitet sich Titel für Titel weiter vor. Nein, meistens lässt man sich neugierig machen von einzelnen Geschichten, zieht hier eine heraus, liest dort die erste Seite an, liest sich fest, wandert weiter…So auch in der Anthologie „Von Fluchten und Wiederfluchten“, herausgegeben von Artur Nickel und kürzlich erschienen im Geest-Verlag:  Mehr als 500 Seiten fasst diese „kleine Bibliothek“, die dabei noch recht bequem ins Handgepäck passt.  Viele verschiedene Menschen und Initiativen haben daran mitgewirkt: Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern und Generationen, Grafiker, Unterstützer.

Eine Ausschreibung hatte 2016 eine ungeahnt große Resonanz in ganz Europa ausgelöst. Mehr als 300 Texte zum Thema sind eingegangen, knapp 100 davon wurden zur Veröffentlichung ausgewählt. Dabei ist es dem Herausgeber gelungen, die enorme Vielfalt an Themen und Textformen zu Fluchterfahrungen des 20. Und 21. Jahrhunderts in 14 thematischen Kapiteln so zu ordnen, dass in einem oft erstaunlichen Nebeneinander von ganz unterschiedlichen Formen der Auseinandersetzung immer auch Verbindendes über Jahrzehnte und Grenzen hinweg sichtbar wird. Artur Nickel geht auf die Bezüge, die sich daraus ergeben, in einem klugen Nach-Wort ein. Und er schließt seine Kommentierungen mit der Erkenntnis: „Die Geschichten, Gedichte, Berichte in diesem Band beginnen ganz oft damit, dass einer anfängt zu erzählen und ein anderer ihm zuhört. Ihm wirklich zuhört!“

Meine Empfehlung: Es ist gut, in dieses Buch hinein zu lauschen, es nicht nur zu überfliegen. Viele Stimmen wohnen zwischen den Buchdeckeln. Die wollen in Ruhe, nach und nach wahrgenommen werden. Zunächst vielleicht nur einzelne. Später mal andere. Das Buch ist eine Bibliothek mit unbegrenzten Öffnungszeiten. Da muss sich niemand beeilen.

In den 14 Tagen seit Erscheinen des Buches habe ich mich mit 6 Texten vertraut gemacht. Der jüngste Autor meiner Auswahl heißt Hussen Sido, ist 1994 in Aleppo geboren und 2015 nach Europa geflohen. Aus diesem Jahr stammen auch die in dem Buch abgedruckten lyrischen Texte, auf Arabisch geschrieben, ins Englische und dann ins Deutsche übersetzt.  Es sind Texte, die durch die Unmittelbarkeit ihrer starken Bilder –  klar und poetisch – kein Ausweichen zulassen, kein Wegschauen.

Eine andere Autorin meiner bisherigen Leseauswahl , Barbe Maria Linke, ist  50 Jahre früher geboren, 1944 in Pommern. In ihr Erinnern mischen sich Gegenwart und Vergangenheit von verschiedenen Menschen, Bruchstückhaftes, Überraschendes, was erst nach und nach im zögernden Erzählen Konturen bekommt.

Bei der Geschichte von Laura Hummernbrum, die das Erzählen und das Erleben mit ihrer Großmutter in den Fokus stellt, stocke ich, schlage nach, um das Geburtsdatum der Autorin zu prüfen. Denn schnell wird deutlich, wie die Fluchtgeschichte ihrer Großmutter bei ihrer Mutter wie bei ihr selbst offenbar Spuren hinterlassen hat, die auch mir aus der eigenen Familiengeschichte nicht fremd sind. Das literarisch zu fassen – ehrlich, staunend, erschrocken, schmerzlich, liebevoll – ist der 1989 geborenen Autorin eindrucksvoll gelungen.

Zwischen diesen und anderen für mich sehr berührenden Prosatexten, wie z.B. „Leila läuft“ von Ulrike Kleinert oder „Bis hinter die Hügel am Horizont“ von Ulrike Quast mit jeweils anderen regionalen Bezügen und Perspektiven, entdecke ich schließlich noch einen in der Kürze seiner dynamischen Struktur besonders eindringlichen Text von Jalid Sehouli, der heute als Arzt, Wissenschaftler und Schriftsteller in Berlin arbeitet. Bereits in den 1960er Jahren sind seine Eltern aus politischen Gründen aus Marokko nach Deutschland geflohen.  “Es beginnt mit einer unheimlichen Stille…“ heißt es in der ersten Zeile seines Gedichts “Die Flucht”. Und als würde sich ein Kreis schließen und gleichzeitig öffnen wollen, heißt es am Ende: „…und der Traurigkeit folgen eine Stille und eine Suche nach dem Lebendigen“.

Susanne Brandt

Grafik im Titel: Slaiman Alzaza Alkirdi, aus: Von Fluchten und Wiederfluchten

Nickel, Artur (Hrsg.): Von Fluchten und Wiederfluchten. Eine Anthologie. Geest-Verlag, 2017, 15,00 Euro

http://geest-verlag.de/shop/von-fluchten-und-wiederfluchten-herausgegeben-von-artur-nickel-geleitwort-ilija-trojanow

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt