Melodien ohne Worte – Musik aus dem Liederbuch הבה נשירה (Hawa naschira) / Teil 3

Wie jedes Jahr im November trafen sich gestern in Flensburg wieder Juden, Christen und Muslime zum Friedensfühler, einer gemeinsamen Besinnung auf die friedliche Nachbarschaft der Religionen in der Stadt. Dabei besuchten wir einander, luden dazu ein, das Singen und Beten der verschiedenen Religionen kennen zu lernen und im Fremden vielleicht die gemeinsame Friedenssehnsucht zu entdecken.

Foto: Inke Raabe

Zu meinen Aufgaben gehörte es in diesem Jahr, nach den gesprochenen Worten in der Petri-Kirche Musik mit der Flöte erklingen zu lassen – und ich habe lange darüber nachgedacht, was in diesem Rahmen wohl passen könnte. Gefunden habe ich bei meinen Recherchen schließlich die „Melodien ohne Worte“ aus dem jüdischen Liederbuch  „Auf! Lasst uns singen“ הבה נשירה (Hawa naschira). Genau genommen handelt es sich bei den Melodien um Niggunim, die eigentlich auf Silbe mit der Stimme gesungen werden. In ihnen wohnt, so die Erläuterung zu dieser Musik, „das Erhabene dicht neben dem Banalen“. Die einfachen Melodien finden also nur dann ihren eigentlichen Klang, wenn die in ihnen angelegte Spannung entfaltet und gehalten wird. In der ursprünglichen Praxis gehört das Tanzen dazu und in der innigen und tief empfundenen Verbindung von Stimme und Körper wird zugleich die Nähe zu Gott umso intensiver spürbar.

Mit dem Wissen um diese „Melodien ohne Worte“ habe ich probiert, ob die Flöte als ein dem Singen recht nahe stehendes Instrument eine angemessene Interpretation der Niggunim erlaubt. Beim Spielen wie beim Singen zeigt sich: Diese kleinen Melodien verlangen nach Spannung und Leidenschaft, nach einem Sich-Einfühlen in die harmonischen Wendungen, für die eine vielgestaltige Ambivalenz charakteristisch ist. Es geht beim Silbengesang dieser Melodien darum, ein Gefühl für den differenzierten Ausdruck zwischen Lächeln und Tränen, zwischen Klage und Hoffnung, Verzweiflung und Aufbegehren, Enttäuschung und Zuversicht zu entwickeln. Und für den Versuch, dem Charakter dieser Musik mit der Flöte (oder besser: mit dem Atem, der durch die Flöte strömt) gerecht zu werden, gilt das nicht weniger.

Der Friedensfühler war für mich ein Anlass, neu mit dieser Musik zu experimentieren: ein Anfang und eine erste Ahnung, wie das gelingen und sich weiter entwickeln kann…

Cover des Liederbuches

Die Wahl der Musik aus diesem alten jüdischen Liederbuch erschien mir aber auch noch aus einem anderen Grund als passend für ein solches Miteinander von Menschen aus verschiedenen Nationen und Religionen: Die Zusammenstellung in dem Nachdruck des alten jüdischen Schulliederbuches aus Hamburg zeigt eine gemeinsame jüdisch-deutsche Sing- und Musikpraxis, bei der christliche Choräle und jüdische Shabbat-Gesänge, jüdische Kinderlieder, Lagerfeuer-Lieder der bündischen Jugend sowie musikalische Einflüsse aus Deutschland, Israel und Osteuropa für die Hoffnung der damaligen Herausgeber auf eine friedliche gemeinsame Musikpraxis im kulturellen Dialog stehen – und sich bewusst gegen eine Abgrenzung und Ausgrenzung richten, wie sie in den 1930er Jahren auf grausame und zerstörerische Art bald Wirklichkeit wurde.

Zum Entstehungshintergrund der Sammlung: Das Liederbuch „Auf! Lasst uns singen“ הבה נשירה (Hawa naschira), herausgegeben von dem Musiklehrer Joseph Jacobsen (1897-1943), konnte damals in Hamburg an der Talmud-Tora-Schule nur für wenige Jahre zum gemeinsamen Singen von deutschen, hebräischen und jiddischen Liedern einladen. Joseph Jacobsen war schon als Kind Anfang des 20. Jahrhunderts selbst an der Talmud-Tora-Schule unterrichtet worden. Im Zuge der Novemberpogrome 1938 wurde Jacobsen zusammen mit dem gesamten Kollegium der Talmud-Tora-Schule verhaftet und elf Tage im KZ Sachsenhausen gefangen gehalten. Danach floh er mit seiner Familie nach London, wo er wenige Jahre später nach schwerer Krankheit starb.

Mehr dazuhttp://waldworte.eu/2016/03/28/fruehlingsregen-ein-nachdenken-ueber-das-singen-an-der-hamburger-talmud-tora-schule/

“Seht die Bäume unter dem Himmel” – Singen mit dem Liederbuch הבה נשירה (Hawa naschira) / Teil 2

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt