Vom Leuchten der Geschichten in dunkler Zeit

Vor einiger Zeit habe ich mich für eine größere Fachveröffentlichung mit dem Buch “Fräulein Esthers letzte Vorstellung” von Adam Jaromir und Gabriela Cichowska (Gimpel Verlag, Hannover 2013) befasst. Bemerkenswert finde ich hierbei vor allem die mehrschichtige Anlage: Korczaks Tagebuchzitate, Notizen und die Geschichte von Amal , einem Bühnenstück von R. Tagore ( “Das Postamt”), sind in die Handlung eingebettet und verbinden sich mit den Erfahrungen der Kinder im Warschauer Waisenhaus 1942. 

Trailer zum Buch

Cover c Gimpel Verlag

Warschauer Ghetto, im Mai 1942: Die Lebensbedingungen im Waisenhaus von Janusz Korczak werden immer schwieriger. „Viele sind jetzt krank. Husten, Fieber…Es geht reihum. Erst Chana, dann Tola, dann Felunia…Felunia liegt jetzt im Isolationszimmer. Der Herr Doktor schien ganz besorgt, als er sie heute früh abhorchte. Er will schauen, ob er auf dem Markt Zwiebeln und etwas Zucker bekommt, für den Hustensirup.“[1]

Mitten im täglichen Kampf mit Hunger und Krankheit, im Schwanken zwischen Angst und Hoffnung kommt Korczak im Traum der Gedanke, die Kinder ein Theaterstück des indischen Dichters Rabindranath Tagore aufführen zu lassen. Unter Anleitung von Fräulein Esther soll das geschehen. Und die Kinder, viele von ihnen schon gezeichnet von Hunger und Schwäche, tauchen ein in die Geschichte eines kranken Jungen, der am Ende sterben wird.

Cover c Edition Anker

In einer Mischung aus dokumentarischen und fiktionalen Elementen erzählen Adam Jaromir und Gabriela Cichowska in Text und Bild nicht allein von den letzten Monaten im Leben des Pädagogen, Kinderbuchautors und Arztes Janusz Korczak. Sie erzählen ebenso von seiner willensstarken Mitarbeiterin Fräulein Esther und den vielen Alltagsritualen, die in einer von Hunger, Krankheit und Tod geprägten Umgebung immer wieder an das Lebendige erinnern: die Blumen, der Hebräisch-Unterricht, das Gebet, das Tagebuchschreiben, die Freude an Bildern und Musik – und am Theater.  Dabei fällt die Wahl nicht auf ein lustiges Stück, das den Kindern Ablenkung und Zerstreuung verspricht. “Das Postamt” erzählt die Geschichte von dem kranken Junge Amal – und von seiner Hoffnung. [Anmerkung: s. dazu auch Bilderbuchausgabe nach dem Bühnenwerk: “Amal und der Brief des Königs”, Edition Anker]

Haben Korczak und Fräulein Esther dabei eine narrative Vorbereitung der Kinder auf ihr baldiges Sterben im Blick? Vielleicht auch das. Zunächst aber schenken sie den hustenden und geschwächten Kindern eine Atempause, stillen ihren Hunger nach Schönheit und Glanz inmitten von Elend und Verfall, auch in jenen Kammern, wo die kranken Kinder nur noch am Rande teilhaben können an den Vorbereitungen auf das große Theaterereignis – wie die kleine Tola, die sich in ihrem Krankenbett über eine Papierblume freuen kann – und über einen Tanz, den eine Mitspielerin extra für sie am Bett vorführen wird. Das Erzählen von den Ereignissen geschieht im Wechsel durch zwei Stimmen: Dr. Korczak berichtet teilweise im Wortlaut seiner tatsächlichen Tagebuchaufzeichnungen vom Alltag im Waisenhaus und Genia, ein zwölfjähriges Mädchen, bringt den Lesenden und Schauenden das Empfinden und Erleben aus der Sicht eines Kindes nahe. Berichte von episodischen Begebenheiten mit einzelnen Kindern und eine dokumentarisch anmutende Notiz über die gewaltsame Auflösung des Waisenhauses, drei Wochen nach der Aufführung, ergänzen die Textcollage, bei der die wechselnden Perspektiven durch verschiedene Schrifttypen erkennbar sind. […]

Foto: Brandt, aus: “Fräulein Esthers letzte Vorstellung”

Der eigentliche Höhepunkt und Abschluss des in den Mittelpunkt gestellten Geschehens liegt in der Aufführung von Tagores Postamt  –  und in den Träumen, die die Kinder in ihrer großen Aufregung vor dem Ereignis erleben. Bei der literarischen Gestaltung dieses Höhepunktes kommt auch das feine Zusammenspiel von Text und Bild zur vollen Entfaltung: Die vorherrschend erdig-dunkle Farbgebung des Buches gewinnt in Szenen wie der mit dem  tanzenden Blumenmädchen[2] eine behutsame Durchbrechung mit hellen und rötlichen Akzenten. Hier wie auch an anderen Stellen wird die Seitengestaltung von Bildmontagen bestimmt, die Stoffe und Schriften, Materialien und Lichtkontraste beziehungsreich miteinander verweben. Auch die Sprache lässt etwas aufleuchten: „…dann kommt Lutek mit seiner Geige und dieser Melodie…Plötzlich ist alles da…Fuß und Bein, Hand und Arm, Kopf und Brust…Sie tanzen ihren Tanz. Frei. Schwebend. Ohne mich. Ich schließe die Augen und sehe ihn…Seinen Adlerkopf, die roten Schwingen…Tief unter ihm – man erkennt sie kaum – unser Haus, die Mauer. Er fliegt weg. Weit, weit weg, ohne sich umzuschauen. Unter seinen Federn, ich sehe ihre Köpfe – Tola, Felunia, die anderen…“[3]

Beim genauen Hinsehen – oder besser: beim Eintauchen in die verborgene Leuchtkraft dieses Buches scheint das Dunkel der Erde aufzubrechen. „Die verkrustete Erde atmet auf“[4], stellt Janusz Korczak beim Gießen der Blumen auf der Fensterbank fest. Und ein mattes Grün mischt sich ins Bild. Es sind elementare Berührungen mit der Natur, es sind die immer wieder einander zugesprochenen Geschichten und es sind die Bewegungen, die durch die Magie des Tanzes in einem spürbar werden und die von der so außergewöhnlichen Poesie dieses Buches herrühren. Zugleich entsteht dabei eine mitunter schwer auszuhaltende Spannung: Der Tod steht schon vor der Tür, er steht auf der Bühne und hockt am Krankenbett mancher Kinder. Aber die Geschichte erzählt so viel vom Leben!

„Als die Lichter wieder angingen, saßen alle still da. Glaubten sie etwa, das Stück ginge weiter? Und dass der königliche Postbote an die Pforte unseres Hauses klopfen würde, um ihnen einen Brief zu übergeben?“[5]

[1] Jaromir, Fräulein Esther, S.56

[2] Jaromir, Fräulein Esther, S.106-107

[3] Ebd., S.106

[4] Ebd., S.94

[5] Ebd., S.111

Susanne Brandt

Bei diesem Text handelt es sich um einen leicht bearbeiteten und gekürzten Auszug aus einem längeren Beitrag:

Brandt, Susanne: “Die Wörter fliegen” Narration, Poesie und Kunst im Bilderbuch als Ausdruck von Bewältigungsstrategien bei Krankheit im Lebensumfeld von Kindern. Erschienen in: Literatur im Unterricht – Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule.  Hg. von Jan Standke. 18. Jahrgang, Heft 2 (2017) / Themenheft: Krankheit erzählen


Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Flensburg oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt