Im Sommer 2011 habe ich in diesem Blog meine Freude über das Buch „Vom Wandern“ von Ulrich Grober zum Ausdruck gebracht. Nun bin ich abermals auf ein 2013 aktualisiertes und erweitertes Buch (1. Aufl. 2010) von Ulrich Grober gestoßen – abermals zu einem Thema, das mich, wie schon das Wandern, seit vielen Jahren buchstäblich „bewegt“: „Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs“ – so der Titel. Was auch dieses Buch wieder von anderen Veröffentlichungen zum Thema unterscheidet, ist der tiefe Einblick in die vielen Facetten des Begriffs. Nachhaltigkeit wird hier nicht – wie so oft – als Floskel vereinnahmt. Vielmehr zeigt der Autor kenntnisreich und durch treffend gewählte Zitate belegt die vielen kulturgeschichtlichen Einflüsse auf Entwicklung und Deutung des Begriffs, entdeckt Urtexte und Vordenker aus verschiedenen Epochen, Nationen, Perspektiven und macht an unterschiedlichen Nachhaltigkeitsmodellen deutlich, wie diese um menschliche Grundbedürfnisse und um Lebensqualität kreisen und ringen.
Der „Europäische Traum“ und andere Visionen
Als ein besonders bemerkenswertes Beispiel in dieser Zeit – 12 Jahre später: Die Schlussworte des US-Soziologen Jeremy Rifkin in seinem 2004 erschienenen Buch „Europäischen Traum. Die Vision einer leisen Supermacht“:
„Wir leben in unruhigen Zeiten. Viel von der Welt liegt im Dunkeln, sodass zahlreiche Menschen keine klare Orientierung haben. Der Europäische Traum ist ein Silberstreif am Horizont einer geplagten Welt. Er lockt uns in eine neue Zeit der Inklusivität, Diversität, Lebensqualität, spielerischen Erfahrung, Nachhaltigkeit, der universellen Menschenrechte und der Rechte der Natur und des Friedens auf Erden.“
Ja, auch Visionen, Enttäuschungen und der Ansporn zu neuen Aufbrüchen und Reformen waren, sind und bleiben untrennbar mit Nachhaltigkeit verbunden. Dass das nur in einem ständigen Wandel sprachlicher Bilder und Lesarten beschrieben und für die Verwirklichung immer wieder neu definiert und geübt werden kann, liegt auf der Hand. Ein solcher Prozess berührt alle Bereiche des Lebens auf der Erde und ist eine Herausforderung für die Künste wie für die Theologie, Philosophie und Politik, für Technik, Wirtschaft und Naturwissenschaften ebenso wie für das soziale Miteinander. Mir ist kein anderes Buch bekannt, das all diese Aspekte einzubeziehen versteht, um den sperrigen Begriff aufzubrechen und besser zugänglich zu machen.
Während das Thema „Nachhaltigkeit“ im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext nicht selten in der Gefahr steht, für eigennützige Interessen instrumentalisiert und dabei auf eine oberflächliche und verkürzte Lesart reduziert zu werden, geschieht mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ durch dieses Buch etwas ganz anderes: Er zeigt eine innewohnende Elastizität, die sich nicht willkürlich für wechselnde Interessen verbiegen lässt. Und er erweist sich als so lebendig, dass man nicht nur die aktuelle Blüte, sondern auch die tiefgreifenden Wurzeln in den Blick nehmen möchte und Vertrauen setzt in das, was die indische Dichterin Arundhati Roy so beschreibt:
„Eine andere Welt ist nicht nur möglich. Sie ist im Entstehen. An einem stillen Tag höre ich sie atmen.“
Es sind nicht zuletzt poetische Bilder wie diese, mit denen das Buch zeigt, dass „Nachhaltigkeit“ nicht allein eine Frage von Informationen und rationalen Entscheidungen ist – so wichtig diese im Prozess auch sein mögen. Aber gleichzeitig gilt: Ohne sinnliche und ästhetische Erfahrungen, ohne ein tiefes Empfinden für soziale Gerechtigkeit, für Schönheit und Lebensqualität, für die kreative und oft auch überraschende Kraft des Schöpferischen im Leben bleibt fraglich und mitunter sinnentleert, was durch „nackte Informationen“ tatsächlich geschieht, was sich dadurch ändern und in der Tiefe wandeln kann.
Nachhaltigkeit und Bibliotheken? – Enttäuschung und Hoffnung
Anlass für mich persönlich, sich diese Tage neu in dieses Buch zu vertiefen, war die in meinen Augen enttäuschende Stellungnahme des Deutschen Bibliotheksverbandes zur Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung im Rahmen der Agenda 2030. Enttäuschend ist das Papier für mich deshalb, weil es eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Strategie vermissen lässt. Da zeugen die Stellungnahmen anderer Verbände von einer sehr viel gründlicheren Kenntnis und Beschäftigung mit den Inhalten der Strategie.
Enttäuschend ist das Papier des Bibliotheksverbandes für mich außerdem, weil der dort erklärte Nachhaltigkeitsbeitrag der Bibliotheken in Deutschland vornehmlich mit dem Zauberwort „Zugang zu Informationen“ beschworen wird – und das geradezu penetrant gleich 13 Mal in diesem vergleichsweise kurzen Text! Natürlich kann Zugang zu Informationen in bestimmten Zusammenhängen die Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie unterstützen. Das aber hätte sich gut und überzeugender in einem einzigen Satz verdeutlichen lassen, um dann umso ausführlicher auch auf weitere Bedeutungen und Chancen der Bibliotheken für mehr Lebensqualität, Mitverantwortung, ökologische Raum- und Programmgestaltung, für ästhetische, künstlerische, soziale und sinnstiftende Erfahrungen einzugehen.
Als ich 2010 in einem Kongressvortrag zum „Prinzip Nachhaltigkeit“ als Herausforderung für Bibliotheken den Versuch unternommen hatte, das Thema deutlicher für Bibliotheken ins Gespräch zu bringen, sollten die damals entwickelten Thesen als erster Denkanstoß verstanden werden – in dieser Form noch unvollständig, vielleicht anregend und inspirierend zur Weiterentwicklung.
Ulrich Grobers Buch von der Entdeckung der Nachhaltigkeit ermutigt erneut dazu, diese Hoffnung nicht aufzugeben, sondern sich immer wieder auf die spannende Mehrdimensionalität des Themas einzulassen. Denn es bietet weit mehr als „Informationen“. Es bietet fundiertes, gut lesbar aufbereitetes Wissen zum Weiterdenken und -lesen. Und es ist als Inspiration hoffentlich auch in vielen Bibliotheken zu finden.
Susanne Brandt