„Woher die Worte den Mut nehmen“ – Bibliotheksgedichte erzählen Bibliotheksgeschichte

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Stadtbibliothek Stuttgart, Foto: Susanne Brandt

Wer Bücher liebt und mit Bibliotheken vertraut ist, wird bei dieser Lyrik-Anthologie ins Staunen kommen: Was der Herausgeber Raymond Dittrich in dem neu erschienenen Auswahlband “Bibliotheken der Dichter” an Bibliotheksgedichten aus vielen Jahrhunderten zusammengetragen und durch Register erschlossen hat, ist von einer so überraschenden Vielfalt geprägt, dass man sich gern darin „festliest“. Viele bekannte und einige unbekannte Namen gibt es dabei zu entdecken: Gryphius und Grillparzer, Hesse, Brecht und Roth, Jandl, Bachmann und Gernhardt. Auch der 1971 geborene Jan Wagner, Leipziger Buchpreisträger im letzten Jahr, fehlt nicht. Sie bringen in ihrer Lyrik etwas davon zum Ausdruck, was Bibliotheken sind und bewirken, beflügeln oder begrenzen. Und folgt man dabei der Chronologie des Buches, lesen sich die Gedichte zugleich wie eine Reise durch die Bibliotheksgeschichte – und durch das sich verändernde Erleben von Büchersammlungen im Laufe der Jahrhunderte.

Bibliothek von Kristiansund
Bibliothek von Kristiansund

Das kenntnisreiche Vorwort des Herausgebers leistet für eine solche Lesart einen wichtigen Beitrag. Deutlich wird daran auch: Der Titel »Bibliotheken der Dichter« bezeichnet beides – die Institution Bibliothek in der Imagination der Dichter wie auch die private Büchersammlung der Poeten. Ergänzt werden die Gedichte durch einen Essay über die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in der Dichtung.
Nach meiner Kenntnis gibt es bislang keine ähnlich umfassende und sorgfältig editierte Ausgabe von Gedichten über Büchersammlungen, die das Thema mit so vielen Facetten zu erschließen vermag.

Und schon beim ersten Durchblättern habe ich nicht nur mit Freude den von mir sehr geschätzten Lyriker Rainer Malkowski (1939-2003) darin entdeckt, sondern auch ein mir bislang unbekanntes Gedicht von ihm, das mit den Worten endet:

[…] und haben wir denn heute
Besseres
als unsere erste
bestürzende Ahnung,
woher die Worte den Mut nehmen
und aller Mut
seinen Atem?

Es bleibt die Hoffnung: Auch wenn Bibliotheken sich wandeln, werden sie weiterhin Raum schenken für ein so ergreifendes Ahnen und Erleben, das durch keine digital recherchierbare Information zu ersetzen ist.

Susanne Brandt
Bibliotheken der DichterRaymond Dittrich: Bibliotheken der Dichter. Eine Auswahl deutschsprachiger Bibliotheksgedichte vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Mit einem Essay über die Herzogin Anna Amalia Bibliothek und ihre Dichter von Roland Bärwinkel
ISBN-13: 978-3-96008-459-4 1. Auflage 2016-09 Engelsdorfer Verlag Sprache: Deutsch Taschenbuch, Format: 19×12 458 Seiten, 18.00 Euro

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt