Impulse zum Erproben und Weiterdenken, inspiriert von Gianni Rodaris „Grammatik der Phantasie“
Die „Grammatik der Phantasie“ von Gianni Rodari neu lesen – gerade vor dem Hintergrund heutiger Fragen, die sich hinsichtlich einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) stellen? Welche Erkenntnisse und Impulse zum Weiterdenken und Umsetzen in der Praxis lassen sich dabei entdecken?
Folgende Überlegungen zeigen mögliche Zugänge (es gibt gewiss noch ganz andere) und münden in konkrete Bausteine für Workshops, die davon inspiriert sind. (s. Anhang)
Am Anfang steht die Wahrnehmung der Welt – denn für Rodari war es immer wichtig, die Imagination mit der Realität zu verbinden, zu erkennen und zu staunen, was ist und von dort aus spielerisch Ideen zu entfalten.
Und ebenso wichtig – gerade auch im Blick auf BNE:
Kinder jeden Alters an diesem „geerdeten Phantasieren“ teilhaben zu lassen und ihre Ideen ernst zu nehmen, macht Erzählen und Schreiben von Poesie und Geschichten zu einem gesellschaftlich emanzipatorischen Geschehen. Denn nach Rodaris Ansatz beginnt dieser Weg bei elementaren Bedürfnissen und Fähigkeiten: Kinder werden darin bestärkt und befähigt, mit ihrer eigenen Imaginationskraft, Kreativität und Spiellust in eine intensive Beziehung zur realen Welt wie zu Menschen zu kommen. So entwickeln sich Voraussetzungen für mögliche Veränderung als Erfahrung von Verbundenheit und Freiheit.
Rodari: „Alle Gebrauchsmöglichkeiten des Wortes allen zugänglich machen – das erscheint mir als ein gutes Motto mit gutem demokratischen Klang. Nicht, damit alle Künstler werden, sondern damit niemand Sklave sei“ (GdP, S. 10).
Weiterdenken lässt sich dieser Weg bis hin zu politisch-realen Wirkungen, die von Menschen mit dem Mut zu Visionen, mit Empathie, schöpferischen Ideen und Kommunikationsfähigkeit ausgehen können. Und Belege für das wirksame und nachhaltige Zusammenspiel von Phantasie und Kreativität lassen sich heute auch hirnphysiologisch herleiten.
Festzuhalten bleibt also:
Wahrnehmung und Gestaltungskompetenz, eine Verbindung von rationalem und phantasievollem Handeln wie auch ein konsequentes Denken vom Kind her, das hier die Chance bekommt, eigene Erkenntnisse zu entwickeln und auszugestalten, sind die Grundzüge dieser Haltung.
Dabei ist der freie, spielerische, gestalterische und experimentelle Umgang mit Sprache von entscheidender Bedeutung.
Für den Assoziationsprozess, der nach Rodaris Erfahrung von einem einzelnen Wort im Bewusstsein ausgelöst werden kann, hat er die „Stein-im-Teich“-These formuliert – im Vergleich zu einem Stein, der im Wasser konzentrische Kreise aufwirft:
Rodari: „Nicht anders erzeugt ein zufällig ins Bewusstsein geworfenes Wort Wellen an der Oberfläche und in der Tiefe, löst eine endlose Kettenreaktion aus und zieht fallend Töne und Bilder, Analogien und Erinnerungen, Bedeutungen und Träume in eine Bewegung hinein, welche die Erfahrung und das Gedächtnis, die Phantasie und das Unbekannte berührt und sich noch dadurch kompliziert, dass eben das Bewusstsein sich während des gesamten Vorgangs nicht passiv verhält, sondern beständig in ihn eingreift, um aufzunehmen und zurückzuweisen, zu verknüpfen und zu zensieren, aufzubauen und zu zerstören“ (GdP, S. 10 f.).
Eine besondere Wirkung kommt für ihn dabei dem Phantastischen Binom (PB) zu: der Kombination von ungewöhnlichen, oft zufällig entdeckten, geradezu gegensätzlichen Elementen, Dingen, Begriffen, die einen Zwischenraum öffnen, der von den Kindern durch Phantasie und Kreativität gefüllt wird, um eine Verbindung dazwischen als Idee zu entwickeln
Rodari beobachtet bei der Suche der Kinder nach Lösungen für das PB den „Gebrauch der Phantasie mit dem Ziel, eine aktive Beziehung zur Realität herzustellen“ (GdP, S. 36).
Diese spielerische Verquickung von Phantasie und Realität ist für Rodari besonders reizvoll: „Die Wirklichkeit kann man durch den Haupteingang betreten, aber man kann auch durch ein Fensterchen in sie hineinschlüpfen, was viel vergnüglicher ist“ (ebd., S. 36)
Damit wird einerseits die oft enge, vorgegebene Realität erweitert, gleichzeitig aber mit Elementen dieser Realität spielerisch umgegangen.
Rodari: „Das Spiel ist keine bloße Erinnerung an empfangene Eindrücke, sondern deren schöpferische Aufarbeitung, ein Prozess, durch den das Kind die Gegebenheiten der Erfahrung miteinander verbindet, um eine neue Realität zu konstruieren, die seiner Neugier und seinen Bedürfnissen entspricht“ (GdP, S. 186)
Das Spiel mit der freien Phantasie ist für Rodari „eine fortgeschrittene Phase der Herrschaft über das Reale, als eine viel freiere Beziehung zum Stofflichen. Es handelt sich um einen Moment der Reflexion, der über das Spiel hinausgeht. Es ist bereits eine Form der rationalisierten Erfahrung: ein Vorgriff auf die Abstraktion“ (ebd., S. 132).
Auch hier sieht Rodari die emanzipatorische Chance seines Ansatzes: An dem Spiel, mit dem es gelingt, das scheinbar Unüberbrückbare zu verbinden und mit eigenen Lösungen zu verändern, wollte er besonders auch „die im Nachteil waren, die zu den Schwächeren der Gesellschaft gehörten, teilhaben lassen.“
Die Workshopskizze im Anhang beinhaltet in Stichworten Praxisideen, die von Gianni Rodaris Ideen inspiriert sind und diese mit dem Ansatz der „Wildwuchsgeschichten“ verbinden.
Zum Weiterlesen und Vertiefen:
Katja Reinicke: Das „phantastische Binom“ von Gianni Rodari als Mittel zur Konstruktion der Wirklichkeit. Untersuchungen zu „Grammatik der Phantasie – Die Kunst, Geschichten zu erfinden“ GRIN-Verlag, 2014
Zum Download: Am Strand, da ist der Wind zuhaus
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