Sonntagsmomente: Durchnässt bis auf die Herzhaut. Nachklang zum Welttag der Poesie im März 2020

Die Märztage sind in besonderer Weise Kulturtage: Weltgeschichtentag am 20. März, Welttag der Poesie am 21. März…Normalerweise stehen jetzt Kulturschaffende auf den Bühnen, berühren mit ihrer Sprachkunst, lassen die Künste miteinander spielen, regen Gespräche an. Die Eindrücke begleiten uns bis in die Häuser – nachdem wir das gemeinsame Erlebnis mit anderen Menschen genossen haben.

Aber nicht in diesem März 2020. Alles abgesagt.

Vieles davon findet jetzt im Netz statt. Manche haben ihre Lesungen und Konzerte auf YouTube verlegt. Auch ich bin seit Tagen mehr als sonst digital unterwegs, weil ich daran teilhaben möchte und merke zugleich: Das tröstet mich nicht wirklich über den Verlust an Begegnung und Kultur hinweg, den wir gerade erleben.

Ein bisschen anders ist das beim Lesen – besonders auch beim analogen Lesen. Das war schon immer ein Kulturerlebnis, das gut auch allein zu Hause geht. Da begibt man sich in den stillen Dialog mit der Autorin oder dem Autor, nimmt das Buch zur Hand, wann und wo immer man möchte, lässt den Text auf sich wirken – heute so, morgen vielleicht ganz anders. Solche Texte, die nicht im Dauerrauschen des Netzes nur an einem vorbeiziehen, sondern geduldig darauf warten, von uns immer wieder gefunden zu werden, die sich in ihrer Wirkung verändern, auch wenn die Buchstaben bleiben, wie und wo sie sind – solche Texte sind von ihrem Wesen her auf lebendigen Dialog hin angelegt. Das hilft beim Zuhausebleiben – so ganz ohne Gäste.

Die „Bitte“ von Hilde Domin ist für mich so ein Text, der mich lange schon begleitet,  heute aber anders auf mich wirkt als noch vor einigen Monaten oder Jahren.

Die ersten beiden Strophen:

Wir werden eingetaucht
und mit den Wassern der Sintflut gewaschen
Wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht

Dieser  „Wunsch, verschont zu bleiben“ schwingt mit – so mein Eindruck – wenn es derzeit in den Berichterstattungen rund um die Ausbreitung der Pandemie immer wieder um Zahlen geht, um Wahrscheinlichkeiten der leichten, schweren oder tödlichen Verläufe der Krankheit. Zu den Informationen gehört auch, dass wir um die Fragwürdigkeit der Zahlen wissen. Die Dunkelziffer ist und bleibt eine unberechenbare Größe und relativiert den Wert jeder Hochrechnung. Aber der  „Wunsch, verschont zu bleiben“ ist übermächtig und wir versuchen, den Fakten, Berechnungen und Informationen die ersehnte Sicherheit, Gewissheit oder Beruhigung abzuringen. Vergeblich!

Was also taugt?

In dem Gedicht von Hilde Domin heißt es weiter:

Es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blume sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden 

und dass wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.  

Die Bitte um das Überleben der Hoffnung also? Die Bitte um das, was heil bleibt oder wird, auch wenn wir vielleicht nicht verschont werden?

Die Zahlen, die uns heute so und morgen anders mögliche Wahrscheinlichkeiten von Rettung und Gefahr vor Augen halten, können eine Rolle spielen, wenn wir uns darauf besinnen, wie wichtig es ist Menschen in Krankheit und Not eine menschenwürdige Fürsorge und Begleitung zu ermöglichen. Das bleibt meine Hoffnung, die überleben soll und zu der ich das Mögliche beitragen möchte.

Aber die Zahlen allein geben mir keinen Grund zum Hoffen und Handeln. Unsere „Herzhaut“ – um ein Bild aus den Anfangszeilen des Gedichts aufzugreifen – wird diese Tage durchnässt, zum Zerreißen gespannt, dünner, vielleicht aber auch wärmer und empfindsamer durch so viele Dinge, die mit Statistiken und Fallzahlen nicht zu ermessen und auch nur bedingt zu steuern sind: Wie gestalten wir Nähe und Beziehung in Zeiten der körperlichen Distanz? Wie schützen wir alte Menschen nicht nur vor der Gefahr der Ansteckung, sondern auch vor der Gefahr durch Einsamkeit und Depression? Wie bewahren wir uns die Leidenschaft für globale Solidarität, wenn die Grenzen verschlossen sind und es vielleicht für lange Zeit bleiben? Wohin mit meiner Sehnsucht nach Austausch und Begegnung, nach Musik und Kultur in Gemeinschaft? Was hilft den Menschen im Gesundheits- und Pflegebereich jetzt wirklich – und vor allem auch weiterhin nach der aktuellen Krise? Und wie lässt sich angesichts der existenziellen Angst vieler Menschen vor Arbeitslosigkeit und Konkurs endlich eine gerechtere Verteilung und menschenwürdige Grundversorgung entwickeln?

Das sind Fragen – manchmal überwältigend wie eine Flut – die mir unter die Herzhaut gehen. Für alles das kann es keine Antworten und Lösungen geben, die uns unversehrt lassen. Längst spüren wir den Schmerz, das eigene Unvermögen, die Zweifel, die Zerrissenheit, den Verlust, die große Mitverantwortung. Schon jetzt ist klar, das wir nicht verschont sind. In keinem Teil der Welt.

Wir leben also versehrt weiter, und wir erfahren jeden Tag zugleich auch das Heilende – nicht (nur) in den Zahlen der Menschen, die inzwischen vom Virus genesen sind, sondern mehr noch in dem, was wir von Herzen weiterhin füreinander und miteinander erbitten, hoffen und feiern können.

Zuhause bleiben ist ein vernünftiger Rat für diese Tage – aber nur dann, wenn die Tür zu den Möglichkeiten, die unser Zusammenleben in dieser Welt so reich, verletzlich und heilsam machen, weit geöffnet bleibt.

Susanne Brandt / (Gedanken zu Corona im März 2020)

Quelle des zitierten Gedichts: Hilde Domin, Bitte.
Aus: dies., Gesammelte Gedichte.
Copyright: S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1987

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt