Vorlese-Tipp: Der Schrat. Ein Märchen aus dem Wandelwald

Es waren zunächst die magischen Illustrationen von Emilia Dziubak, die meine Neugier geweckt haben: Ich entdeckte sie in einer Ausstellung zu polnischen Illustratorinnen und Illustratoren in der Stadtbibliothek von Poznan. Noch erfüllt von frisch gesammelten Reise- und Wandereindrücken in der Landschaft von Pommern und Ermland-Masuren mit ihren lichten Birkenwäldern, alten Eichenalleen, ihren vielfältigen Flechten, Moosen und Pilzen im Unterholz, ihren Flüssen und Seen in stillen Tälern fiel es nicht schwer, einen Zugang zur Bilderwelt der Künstlerin zu finden.

Nach Deutschland zurückgekehrt, besorgte ich mir gleich das Buch, um auch die Geschichte des Berliner Autors Kai Lüftner kennenzulernen, von der die Bilder offensichtlich inspiriert sind. Eine Entdeckung – der Text wie die künstlerische Umsetzung dazu, jeweils für sich überzeugend und hier nun in ein außerordentlich gelungenes Zusammenspiel gebracht.

Unterwegs im Wandelwald

Zur Geschichte: Zwei Kinder machen sich auf einen langen, geheimnisvollen Weg durch den Wald. Sie brauchen einen Rat. Denn man erzählt sich: …brauchst du einen Rat, dann frag den Schrat. Die Suche führt sie ins Herz des Wandelwaldes – eine Reise für alle Sinne: Feinsinnig beschrieben werden die nuancenreichen Geräusche und Gerüche, die kleinen Wunder und seltsamen Wesen, die ihnen unterwegs begegnen. Und dann ist er plötzlich da, der Schrat, tritt hervor aus einem alten Baumstamm und hört ihnen zu.

Die Kinder erzählen von ihrer Sorge: Eine Straße soll durch den Wald gebaut werden. Viele haben versucht, das Vorhaben abzuwenden und den Wald zu schützen. Vergeblich! Was sollen sie jetzt tun? Und tatsächlich: Der Schrat weiß Rat – wenn vielleicht auch anders als vorhersehbar.

Für mich persönlich liegt eine besondere Stärke des „Märchens aus dem Wandelwald“ in eben diesem Schluss, mit dem es sich auch von anderen Büchern zum Themenkreis Nachhaltigkeit sympathisch unterscheidet: Es kommt nicht mit der großen Moral von den guten Taten der Menschen für jene Natur, die erst von Menschen mächtig zerstört und jetzt ebenso machtvoll von ihnen repariert wird. Es differenziert und achtet die Vielfalt im Denken und Tun. Und besonders wichtig: Es sieht in den Kindern eben nicht die tapferen Retter, die all das Gefährdete in Sicherheit bringen und sich dabei wiederum über die Natur erheben, als ginge es um eine „Sache“, in die sie beliebig eingreifen könnten.

Demut und Zuversicht

Nein, der Autor beschreibt etwas anderes: Er lässt die Kinder hören und entdecken, dass sie Mitwesen der Welt und somit auch des Wandelwaldes sind. Sie sind hineingenommen in einen bleibenden Verwandlungsprozess:

„Durch euch und in euch leben wir weiter, immer im Wandel. Wie der Wald, wie die Welt…Die Natur findet immer einen Weg.“

Das wird so eher selten in Kinderbüchern beschrieben. Aus diesem Wissen um Verbundenheit erwächst und vertieft sich bei den Kindern hier eine besondere Beziehung zur lebendigen Mitwelt. Das prägt ihr Sein und Wirken in der Natur. Das hält ihre Hoffnung auf Wandel wach. Davon können sie anderen erzählen. Und auch wenn – wie hier – der Straßenbau vielleicht nicht zu verhindern ist: In der Geschichte werden die Kinder anders dazu beitragen, dass der Wald dennoch weiterwachsen kann.

Es geht also nicht um die große Heldentat. Es geht ehrlicherweise auch um Demut bei der Einsicht, nicht alles retten zu können – und um die Zuversicht, dennoch an der Seite des Lebens zu bleiben. Als Gast und Mitgeschöpf im Wandelwald.

Zum Vorlesen ab 5 Jahre – so empfiehlt der Verlag bei diesem Buch. Angesichts der feinen Farbigkeit des poetischen, aber niemals kitschig und übertrieben ausgeschmückten Textes ist es gut, die Obergrenze hier offen zu lassen.
Denn auch Erwachsene dürfen sich den Rat vom Schrat gern zu Herzen nehmen.

 

Susanne Brandt

 

Kai Lüftner / Emilia Dziubak: Der Schrat. Ein Märchen aus dem Wandelwald. München: arsEdition, 2025

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt