Schöpfungszeit: Mit veränderter Wahrnehmung anders erzählen, singen und leben

Komorebi – so lerne ich bei meiner täglichen „grünen Runde“ zur Tagesmitte im Übergangsgarten auf dem Koberg: Das ist Japanisch und bedeutet etwa „Das Sonnenlicht, das durch die Blätter der Bäume fällt“ – wenn es überhaupt möglich ist, dafür eine angemessene Übersetzung zu finden. Ich traue mir nicht zu, das wirklich zu beurteilen und kann das erstmal nur mit Respekt vor der mir fremden Sprache bestaunen.

Beim Lesen habe ich im ersten Moment bedauert, dass es im Deutschen kaum möglich scheint, in ähnlicher Weise so facettenreiche Natureindrücke in einem Wort zu fassen. Aber wenn ich jetzt länger darüber nachdenke, frage  ich mich: Um was geht es hier wirklich?
Ist es nicht gerade der Reiz jeder Sprache, dass sie alles, was wir sinnlich und emotional erfahren, nur ansatzweise umschreiben kann, immer mehrdeutig, vielleicht in der Schwebe bleibt, das Unsagbare in Ruhe lässt und bei jedem Menschen andere Bilder weckt?

Mir kommt das Gedicht von Mascha Kaléko in den Sinn, aus tiefsten Tiefen aufgestiegen: Sie schrieb es nicht, sie schwieg es.

Sprache – eingebunden in ein durchlässiges Gewebe

Für das, was ich in diesem Blog manchmal als Freiluftpoesie bezeichne, gilt das auch: Ich kann versuchen, die vielfältigen Regeln und Formen der Sprache einzubinden in das Geflecht der unmittelbaren Wahrnehmungen, bis sich daraus ein Gewebe formt, zart genug, um durchlässig und beweglich zu bleiben. Und kaum weht der Wind hindurch, weiß ich, dass es niemals von den gleichen Bildern erzählt, wenn es aus unterschiedlichen Perspektiven und vor wechselnden Hintergründen wahrgenommen wird.

Vor wenigen Tagen hat die jährliche Schöpfungszeit begonnen und damit auch das Fragen nach den Bildern, die assoziiert werden und durchscheinen, wenn von Schöpfung die Rede ist.

Ich habe von einem überzeugten Atheisten gelernt, dass er als Biologe bewusst von Schöpfung spricht, um dem Leben sein letztes Geheimnis zu lassen. Und ich habe erlebt, wie im Kreationismus die Weite der Schöpfungsbilder schmerzlich zusammengeschnürt wird mit der buchstäblichen Auslegung biblischer Überlieferungen. Ein Wort – viele Lesarten, Empfindungen, Bilder, aber auch Konfliktpunkte, sobald versucht wird, es sozusagen „dingfest“ zu machen und auf „die eine richtige Deutung“ zu beharren.

Schöpfung – das Wort neu und anders von Lebendigkeit erzählen lassen

Vielleicht hilft es, dem Wort jene Lebendigkeit zurückzugeben, von der es erzählt, wenn wir es nicht wie ein Ding oder Konzept begreifen, sondern so davon singen, sprechen und darüber nachdenken, dass unmittelbare Welterfahrungen immer frei mitschwingen und atmen.

Wir können darauf vertrauen, dass es in vielen Kulturen und Sprachen der Welt möglich ist, mit Wörtern ein durchscheinendes Gewebe entstehen zu lassen, das uns mit der Mitwelt verbindet, aber nicht von uns in beliebige Richtungen gezerrt werden kann. Denn dann zerstören wir es.

Mit seinem Sonnengesang hat Franz von Assisi vor 800 Jahren vielleicht genau das versucht: poetisch von der Schöpfung zu erzählen, mit einfachen Bildern und Erfahrungen, die nicht aus einer distanzierten Betrachtung heraus entstehen, sondern aus einer geschwisterlichen Verbundenheit.

Das ist mehr als der Versuch von dichterischer Schönheit. Das bedeutet Perspektivwechsel für unser Beziehungsverständnis und Handeln in der Welt. Mit einer so veränderten Wahrnehmung lässt sich anders erzählen und singen – und leben.

Susanne Brandt

Mehr zur Schöpfungszeit hier:

https://www.ls-netzwerk.eu/schöpfungszeit-2025/

Auch zum Thema:

Auf die Stimmen der Geschwister hören. Der Sonnengesang als Vision

 

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt