Nieselgraues Wetter am Tremser Teich: Kaum jemand ist am Weihnachtsmorgen unterwegs. Braune Blätter hängen schlapp im Gebüsch. Keine Blüten. Allein das Moos schenkt strahlend grüne Farbtupfer auf dem regennassen Totholz.
Doch da: Blickschnell huscht er vorbei, der Stieglitz. Er kreuzt den Weg vom Gebüsch am Seeufer zum Brombeergestrüpp auf der anderen Wegseite. Ich versuche mit den Augen seinem Flug zu folgen. Keine Chance! Schon ist er wieder im Dickicht verschwunden, liebt wohl gerade das wilde Wuchern hier am Rande der Stadt. Ein flüchtiges Bild im Kopf aber, das ist noch da: knallrote Maske im weißen Gesicht und gelb leuchtende Bänder an den ausgebreiteten Flügeln. Ein Farbenblitz im Winternebel.
Ich habe an diesem nasskalten Morgen keine Utensilien für Nature Journaling dabei. Und wenn – wie hätte ich diesen Moment zeichnen sollen? Was ich mit nach Hause nehme ich ein flüchtiger Eindruck, der sich auf dem Weg nach Hause erstmal in Worten zu einem Haiku formt:
Am Weihnachtsmorgen
huscht ein Stieglitz durchs Gebüsch
leuchtender Bote
Stieglitz und Weihnachten – da bin ich nicht die erste, für die beides in einem Bild zusammenfindet. Tatsächlich taucht der Stieglitz schon auf einigen mittelalterlichen Gemälden als Symbol neben Marien- , Jesus- und Geburtsdarstellungen auf. Durch die markanten und vielfältigen Farben ranken verschiedene Deutungen um den kleinen Finkenvogel: Die rote Gesichtsmaske lässt an Blut und Leiden denken, aber das Leuchten im Distelgestrüpp wird ebenso mit Seele, Heil und Erlösung in Verbindung gebracht. Kulturgeschichtlich werden im Stieglitz also gerade die kontrastreichen Facetten des Lebens erkannt.
Zuhause angekommen, versuche ich dann doch nochmal, dem flüchtigen Bild aus der Erinnerung heraus mit Stiften auf Papier Gestalt zu geben – wohl wissend, dass es auf diese Weise nicht darum gehen kann, perspektivisch alles richtig zu machen: eine rasche Bewegung, ein Aufblitzen von Farben, eine vage Vorstellung davon, wie ein Stieglitz aussieht – daraus formt sich eher eine Andeutung für das so überraschend erlebte Farbenspiel im Grau.
Vielleicht wird mir der flinke Fink im Sommer hier wieder begegnen – und ein ganz anderes Bild von ihm wird entstehen…