Diese Tage wurde bei verschiedenen Gelegenheiten das bei De Gruyter im Juni 2024 neu erschienene “Handbuch Bibliothekspädagogik” vorgestellt: eine Fundgrube, die einen Eindruck vermittelt von der Vielfalt unterschiedlicher Facetten und Praxiserfahrungen dieses spannenden und oft unterschätzten Arbeits- und Forschungsbereiches.
Als Beispiel daraus sei an dieser Stelle ein kurzer Auszug zur Bedeutung von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in diesem Kontext – hier bezogen auf den Bereich der frühkindlichen Bildung – wiedergegeben.
- Aus: Brandt, Susanne. “Frühkindliche Bildung und Sprachförderung”. Handbuch Bibliothekspädagogik, edited by Ute Engelkenmeier, Kerstin Keller-Loibl, Bernd Schmid-Ruhe and Richard Stang, Berlin, Boston: De Gruyter Saur, 2024, pp. 239-248. https://doi.org/10.1515/9783111032030-022
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[…] Bibliotheken können mit ihren bibliothekspädagogischen Angeboten dazu beitragen, dass Kinder …
- vielfältige Welterfahrungen sammeln, über unerwartete Vorgänge in Umwelt und Natur staunen und Zusammenhänge mit allen Sinnen erforschen;
- Diversität im Zusammenleben – vor Ort und weltweit – als etwas Kostbares begreifen, Respekt und Einfühlung für das Anderssein durch Perspektivwechsel entwickeln;
- Möglichkeiten der Mitgestaltung in der Welt durch eigene Entscheidungen und Verhaltensweisen entdecken;
- Mehrdeutigkeit als Teil der Wirklichkeit erfahren, Fragen und Zweifeln Raum und Aufmerksamkeit schenken;
- eigene Ausdrucks- und Mitgestaltungsmöglichkeiten erproben, sowohl im praktischen Tun als auch in Fantasie und Gedanken
Es geht bei Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in der frühkindlichen Bildung also nicht vorrangig darum, Sachwissen zu Themen wie Naturschutz und Klima, Krieg, Frieden und Gerechtigkeit zu vermitteln, auch wenn davon natürlich spielerisch immer wieder etwas einfließen kann und soll. Ebenso sind die damit verbundenen ethischen Aspekte nicht mit moralischen Appellen zu verdeutlichen oder gar einzufordern. Vielmehr stehen bei BNE vor allem Weltwahrnehmung, Gestaltungskompetenz und die Ermutigung zum Fragen, Entscheiden und Imaginieren von Möglichkeiten im Mittelpunkt.
Entdecken, Erproben und Mitdenken
Eben dafür bieten Bibliotheken mit ihren Geschichten, Hör- und Bildmedien sowie sozialen Begegnungs- und Teilhabemöglichkeiten hervorragende Chancen, die bei entsprechend konzipierten Angeboten zum Entdecken, Erproben und Mitdenken genutzt werden können. BNE ist in diesem Sinne nicht als ein Sonderthema im Rahmen der Bibliothekspädagogik zu verstehen, sondern eher als eine Art „Wurzelwerk“ für alle Bildungsphasen und Angebote, die daraus erwachsen und in vielfältigen Verbindungen zur Entfaltung gebracht werden können.
Und noch etwas ganz Elementares gilt es zu bedenken, wenn im Kontext von BNE und frühkindlicher Bibliothekspädagogik immer wieder von „Zukunft“ die Rede ist und Kinder leicht in die Rolle der sogenannten Helden geraten, die nun für die Zukunft dieses oder jenes retten oder verbessern sollen: Kinder haben ein Recht auf den heutigen Tag!
So formulierte es der Kinderarzt und Autor Janusz Korczak in seinen Kinderrechten. Und dabei dachte er nicht zuletzt an die Momente der Freude und Verträumtheit, an innere Bilder, Musik und Geschichten, wie sie (auch) in Bibliotheken beziehungsweise in Familien in vertrauter Atmosphäre erlebt und miteinander geteilt werden können und nicht zu schnell dem Anspruch des „Lernens für die Zukunft“ untergeordnet werden sollten. Dieses Erleben in der Gegenwart gilt es in der frühkindlichen Bildung immer wieder besonders in den Blick zu nehmen, auch wenn Kinder im Vorschulalter mit ihren Gedanken durchaus Zukunftsszenarien imaginieren können.
Wenn also Projekte über diese Gegenwart hinausweisen, richtet sich diese Dimension eher an das Denken der Erwachsenen. Die Kinder bleiben mit dem, was sie durch Geschichten erleben und entwickeln, erstmal ganz im Hier und Jetzt. Sie erproben nach und nach in ihrem Denken, Deuten und Erleben, wie sie mit Fantasie und Vorstellungskraft über den heutigen Tag hinausdenken können, wie Zusammenhänge auf Ursache und Wirkung hin untersucht und in eine zeitliche Abfolge einzuordnen sind.
Vom Erleben zum Lesen – vom Lesen zum Erleben
Wie die Ausführungen zur frühkindlichen Entwicklung bei Kindern unter drei Jahren bereits gezeigt haben, verweist die Formel “Vom Erleben zum Lesen – vom Lesen zum Erleben” auf eine entscheidende und in ihren Facetten überaus komplexe Wechselwirkung, die für bibliothekspädagogische Angebote zur frühen Bildung von der Geburt an richtungsweisend ist. Denn mehr noch als die Auswahl der Medien entscheiden Beziehungsqualität und Dialogbereitschaft sowie die begleitenden spielerischen und sinnlichen Anregungen zur Interaktion darüber, ob Lesen, Erzählen und diverse Medienerfahrungen von Kindern als inspirierend und bedeutsam für das eigene Leben empfunden werden. Das gilt auch für die sich anschließende frühkindliche Phase, das sogenannte Vorlesealter etwa zwischen drei und sechs Jahren – für jene Phase der kindlichen Sprachentwicklung also, in der die Lust an und das Verständnis für Geschichten oder Themen, die über Medien vermittelt werden, an Bedeutung und Komplexität gewinnen.
Wie können solche spielerischen und erlebnisorientierten Anregungen in Verbindung mit Medien und Geschichten konkret aussehen und auch im Sinne von BNE gestaltet werden?
- Kinder erobern ihre Umwelt im Spiel und erwerben dabei konkrete Erfahrungen über natürliche
Zusammenhänge […]. Dabei spielt die Fantasie eine wichtige Rolle, denn mit ihrer Hilfe werden
Sinneseindrücke und Erlebnisinhalte so kombiniert und umgestaltet, dass bei den Kindern eigene
Vorstellungsbilder entstehen. (Stein 2004, 9–10)
Genau darum geht es auch, wenn Welterfahrung, Empathie, Deutungskompetenz, Perspektivwechsel und Mitgestaltungsmöglichkeiten als die wesentlichen Aspekte von BNE in der frühkindlichen Bildung genannt werden. Als Beispiel aus der Bibliothekspraxis ist hier das Kinder-ohnen-Projekt (Mobile Saatgutbibliothek 2022) anzusehen, bei dem Kita-Kinder verbunden mit der Mobilen Saatgutbibliothek zu einer passenden Bilderbuchgeschichte eigene praktische Erfahrungen mit dem Säen und Ernten sammeln. Auch das Konzept der Wildwuchsgeschichten (Zukunftsbibliotheken 2021) verbindet Bewegung in der Natur mit dem Hören, Erzählen und Erfinden von Geschichten und kreativen Sprachspielereien und bietet dabei zugleich viele Anknüpfungsmöglichkeiten für sinnliche Erfahrungen und Fragen zur Umwelt.
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