Impressionen aus Polen I: Bachläufe. Natur- und Landschaftserfahrungen in der Region Pojezierze Pomorskie

Auf der Suche nach familiären Wurzeln? Nein, das ist es nicht. Irgendwas stört mich an dem Bild. Es gibt nichts mit mir Verwachsenes, nichts Bleibendes oder Verlorenes zu suchen, wenn ich dorthin reise, wo mein Vater, meine Großmutter, meine Urgroßeltern und deren Vorfahren geboren und aufgewachsen sind: an den Jezioro Pile (Pielburgsee) mit den umliegenden Dörfern, Wäldern und Seen der Region Pojezierze Pomorskie (Pommersche Seenplatte).

Verwurzelung im Sinne von Grundbesitz und ausgeprägter Sesshaftigkeit passt als Begriff nach meinem Empfinden nicht gut zu unserer Familiengeschichte. Die Aufzeichnungen meiner Großmutter dokumentieren eher, dass sie schon als Kind mit ihren Eltern und Geschwistern von einem Dorf ins nächste gezogen ist, immer mit dem Wasser verbunden. Mein Urgroßvater, 1859 in Pilawa (Pielburg) geboren, hatte viel mit Fischerei zu tun. Ihr Alfred, mein Großvater, war als verwaistes Kind aus Berlin zu Verwandten aufs Land gebracht worden, musste früh als Hütejunge helfen und wurde auch weiterhin hauptsächlich bei den Kühen eingesetzt. Die Familien lebten vom Deputat, ihr Besitz bestand also zu großen Teilen aus Naturalien, die sie neben dem Lohn für ihre landwirtschaftliche Hilfsarbeit auf einer kleinen ihnen zugewiesenen Fläche auch selbst anbauen konnten. 

Bei dem, was mein Vater mir aus seiner Kindheit in einem hinterpommerschen Dorf bei Barwice (Bärwalde) erzählt hat, lässt sich keine verklärte Erinnerung an unbeschwerte Kinderjahre in der „alten Heimat“ herauszuhören. Es gab Entbehrungen, Überforderung und seelische Not, Angst und Sehnsucht, Krieg und Flucht. Meine Großmutter notierte über die Zeit 1944-46, dass die Kinder „viel Böses miterleben mussten.“

Ehemalige Schule in Stare Koprzywno

Da die Arbeitstage in der Landwirtschaft lang waren, mussten die fünf noch kleinen Kinder oft selbst aufeinander aufpassen, unterstützt durch meinen als gutmütig und geduldig beschriebenen Urgroßvater, zu dem mein Vater früh ein enges Verhältnis entwickelte. Wann immer möglich, begleitete er ihn überall mit hin: zum Fischen an den See, in den Wald und über die Felder. Von ihm lernte er, die Stimmen der Vögel zu unterscheiden, kleine Flöten aus Weidenruten zu schnitzen, die Fische zu beobachten. Schon meine Großmutter hatte das Angeln an den Flüssen und Seen von ihrem Vater gelernt und freute sich später noch als alte Frau über gelegentliche Ausflüge an Gewässer, in denen sie „stippen“ konnte. 

Sind es statt Wurzeln also eher die „Bachläufe“, nach denen ich hier in dieser Landschaft Ausschau halte? Die von der Eiszeit tief eingeschliffenen Seen, die sich manchmal wie eine breite Kerbe zu ganzen Seenfketten verbinden? Das Bewegliche also, das vom Wandel erzählt und immer etwas von da nach dort fließen lässt?

Es ist mir nicht gleichgültig, in welcher Natur und Landschaft mein Vater, meine Großeltern, meine Urgroßeltern aufgewachsen sind, weil es eben doch etwas gibt, was sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit spürbar positiven und prägenden Erinnerungen wieder und wieder erzählt und an die nächste Generation  weitergegeben haben: ihre Verbundenheit mit der Natur und ganz besonders mit den für diese Region so typischen Gewässern, die sich in den mir vermittelten Geschichten als lebendige, manchmal auch lebensbedrohliche Orte offenbarten. Es gibt in meiner Familie dramatische Rettungsgeschichten von Kindern, die fast ertrunken wären – wie einst meine Großmutter, die in den 1920er Jahren in Stare Koprzywno (Alt-Koprieben) lebte und im Winter im Jezioro Koprzywno (Kobriebener See) ins Eis einbrach.

 

Zu meinen deutlichsten Kindheitserinnerungen aus den 1960er und 1970er Jahren an meinen Vater gehört, dass er in Schleswig-Holstein, wo wir später als Familie lebten, immer auf der Suche nach Seen und Wäldern war. Unzählige Male haben wir uns mit ihm durchs Gesbüsch geschlagen, weil er meinte, dahinter ein Seeufer zu erreichen und dort dann einfach aufs Wasser zu schauen oder nach „Fischen zu gucken“. Noch in den Monaten vor seinem Tod habe ich dieses fast kindliche Strahlen in seinen Augen gesehen, als er nochmal Gelegenheit bekam, ans Ufer des Sankelmarker Sees zu treten und dem leisen Rauschen des Schilfs zu lauschen. Und ich ertappe mich dabei: Auch ich suche weiterhin das, was er mir als Kind immer wieder als seine Sehnsuchtsorte am Wasser vermittelt hat – so als hätte ich ganz tief verinnerlicht: Das ist etwas ganz Kostbares. Überall auf der Welt. Vergiss das nicht.

Mein biografisches Nachdenken auf dieser Reise verbindet sich mit Recherchen zur Wirkung frühkindlicher Natur- und Landschaftseindrücke auf die Persönlichkeitsentwicklung, bei denen ich kürzlich im beruflichen Kontext interessante Erkenntnisse sammeln konnte.

So schreibt Ulrich Gebhard zur Bedeutung von Naturerfahrungen für die seelische Entwicklung: „Die nicht-menschliche Umwelt bietet Kindern wie Erwachsenen eine zentrale emotionale Orientierung, eine feste Insel angesichts der ständig wechselnden Umstände des täglichen Lebens. Das Gefühl der „Verwandtheit“ (…) nährt sich aus der als Kind empfundenen Einheit zwischen Mensch und allen Elementen der nicht-menschlichen Umwelt und es umfasst und ermöglicht darüber hinaus auch ein Gefühl für die eigene menschliche Individualität.

Und in Vorbereitung auf diese Reise lese ich in einer Veröffentlichung der bpb zum Wandel des kollektiven Erinnerns auch: „Kriegsenkel suchen nach Tiefenschichten von Landschaften und Geschichten“.

Vielleicht liegt genau im Schnittpunkt dieser beiden Perspektiven ein wichtiger Ausgangspunkt für ein Weiterdenken nach dieser Reise:

Der europäische Gedanke mit Bezug zur gemeinsamen Ostseeküste, der ich mich in Lübeck ebenso verbunden fühle, bietet interessante Impulse, um diesen wechselvollen Kultur- und Naturraum von der gemeinsamen Landschaft und geografischen Lage her wahrzunehmen und die prägenden Erinnerungen meiner Vorfahren  hier in neue zukunftsweisende Zusammenhänge zu stellen. Ökologische und friedenspolitische Fragen als internationale Aufgaben sind dabei von besonderer Bedeutung.

Bachläufe bleiben in Bewegung. Ihre Lebendigkeit ist geprägt von Veränderungen und einem feinen Zusammenwirken aller Elemente, Menschen, Tiere und Pflanzen. Der Fluss des Erzählens von Erfahrungen und Zusammenhängen geht weiter. Mit Aufmerksamkeit, Fragen, Erinnerungen, Entdeckungen und Visionen – noch offen wohin…

Zum Vertiefen:

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27383/kollektive-erinnerung-im-wandel/

https://www.naturerfahrungsraum.de/fileadmin/user_upload/skript508.pdf

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt