Ich stehe auf der Achalm und schaue über die Schwäbische Alb. Eine Rose wächst ins Bild, schreibt etwas in den Himmel: von Zartheit und Duft, vom langem Atem des Blühens mitten im November, vom lebendigen Mut und von stiller Demut inmitten aller Unwegbarkeiten und Fragen, die seit Tagen meine Begleiterinnen sind.
Meine Gedanken gehen zurück. Hinter mir liegen Stationen und Begegnungen an verschiedenen Orten: eine kreative Buchwerkstatt in Rendsburg mit Text-Impulsen von Janusz Korczak, ein UNESCO-Netzwerktreffen in Schwerin, Gespräche mit PanyArte-Freundinnen und -Freunden in Tübingen und Waldenbuch zur schwierigen Situation von Kultur- und Bildungsarbeit in Nicaragua. Dazu Grupo Sal mit ihren intensiven Liedern und Rhythmen.
An den kommenden zwei Tagen werden die Gespräche hier in Reutlingen beruflich zu Themen des bibliothekarischen Arbeitsfeldes weitergehen, zu KI und Veränderungen auf dem Buchmarkt, zu Datenmanagement – und zur Nachhaltigkeit (auch wenn mir der Begriff viel zu sperrig vorkommt) als Aspekt in dieser Zusammenarbeit.
Wie und mit welchen Worten reden und denken, fühlen und handeln angesichts der vielen Umbrüche und Dilemmata in dieser Welt?
Mittendrin ein Sonntag: Zeit zum Innehalten und Raum zum Nachklingen. Die Wanderung von der Stadt bis zur Burg über der Achalm, mehr als 700 m hoch, tut gut, lässt den Atem tiefer werden und den Blick weiter. Erinnerungen an Momente, an Menschen und Möglichkeiten sortieren sich neu im gleichmäßigen Rhythmus der Schritte. Manches gewinnt an Kontur, anderes verblasst eher im Hintergrund.
Was besonders intensiv nachklingt, ist die Musik von Grupo Sal: wärmende und kraftvolle Liebeslieder an die Schöpfung. „El Cachapecero“ von Mercedes Sosa kommt mir in den Sinn. Ich denke an die letzte Begegnung mit Grupo Sal, damals – vor etwa 20 Jahren in Lingen – noch gemeinsam mit Ernesto Cardenal.
Zurück im Hotel bleibe ich den Erinnerungen auf der Spur, suche nach Ernesto Cardenals Texten, lese Ausschnitte aus den lateinamerikanischen Psalmen, staune über die Poesie, stoße bei den Recherchen auch auf einen Text von Dorothee Sölle mit dem Titel „Beherrschen und Besitzen (Descartes) – oder Hüten und Bewahren (Gen. 2,15) – was wollen wir?“ aus dem Jahr 2001:
„Das Gefühl, dass die Sprache des wissenschaftlichen Diskurses nicht ausreicht, um das, was wir eigentlich miteinander mitteilen sollten, wirklich mitzuteilen, ist immer mehr gewachsen.“
Ja, das empfinde ich noch heute ganz ähnlich. Das Gefühl wächst weiter – gerade in dieser Zeit, da der Diskurs um Krieg und Frieden, Nachhaltigkeit und Bildung, um Klimawandel und all die drängenden Zukunftsfragen auf vielen Ebenen oft polarisierend und ringend um Wahrheitsanspruch geführt wird.
Und ich spüre dabei: Irgendetwas fehlt. Auch dann, wenn wir in allem besonders darum bemüht sind, wissenschaftsbasiert mit Fakten zu argumentieren, klare Ziele zu benennen, Gefahren und Erfolge auf dem Weg dorthin zu beziffern – so wichtig das für die Meinungs- und Demokratiebildung auch ist.
Ich denke an die Sprache der Rose am Berghang, an die Sprache der Musik von Grupo Sal, an die Poesie von Ernesto Cardenal und ahne, was Dorothee Sölle meint, wenn wir uns eben auch noch in anderer Weise wirklich etwas mitzuteilen haben von der Liebe und vom Schmerz in der Welt.
In dem wiedergefunden Text von ihr lese ich:
„Noch geht der Himmel über allen auf und ist nicht nur für einen gedacht. Und in dieser Gemeinsamkeit des Lebens steckt auch die Hoffnung für uns, dass wir noch einmal aus dem gegenwärtigem Zustand der Zerstörung, der Privatisierung und des Raubes herauskommen.“
Dazu gehört nach meinem Verständnis ein weiterer Gedanke, den Dorothee Sölle an anderer Stelle des Textes formuliert:
„Wir sollten uns selber unterbrechen, um diesen Rhythmus des Lebens wahrzunehmen und uns in ihn einzustimmen. Er ist vor uns da und nach uns da. Diese Hoffnung kann nur überleben, wenn wir lernen in den Rhythmus einzuwilligen.“
Mystik und Einkehr, Solidarität und Widerstandskraft als Schlüssel für eine Hoffnung, die immer auch politisch ist?
Mit der Wahrnehmung und Hinwendung zum Unverfügbaren in der Mitwelt, zum zarten Halm und zum starken Baum, zur umfassenden Perspektive Richtung Himmel und zum winzigen Wunder der langsamen Metamorphose unterbrechen und hinterfragen wir einen Steigerungszwang, der den Rhythmus des Lebens so oft missachtet und die Ausbeutung der Mitwelt billigend in Kauf nimmt, wenn nicht sogar für eigene Zwecke bewusst einkalkuliert.
Einzustimmen in den Rhythmus des Lebens – das meint Teilnahme, meint Liebe und Bejahung des Schöpferischen in der Welt, meint Umsicht miteinander, genaues Hinhören und Hinsehen, ein tieferes Verständnis und Empfinden von der eigenen Geschöpflichkeit in Beziehung zu anderen Geschöpfen. So wie Dorothee Sölle in „Lieben und Arbeiten“ es schon vor 40 Jahren formuliert hat:
„Einverständnis wächst nicht ohne Anteilnahme. Wir können die Schöpfung nur dann bejahen, lieben und preisen, wenn wir – passiv und aktiv – an ihr teilnehmen.“
Ich ahne, was das noch heute für die Suche nach Worten und Bildern, für das Hoffen, Tun und Teilen bedeuten kann:
„Schaff mir neue Ohren, die alten registrieren nur Unglück. Und eine neue Liebe zu den Bäumen, statt die voller Trauer. Eine neue Zunge gib mir, statt der von der Angst geknebelten.“ (Dorothee Sölle)
Vielleicht ist es ja so:
Auf die Lieder hören und auf das Lebendige achten, es sehen und nachzeichnen in Gedanken und Bildern, es beschreiben und besingen in der Poesie – das macht uns nicht zu Weltretterinnen und -rettern. Das ermächtigt uns nicht dazu, eine sichere und verfügbare Welt nach unseren Vorstellungen zu konstruieren. Aber es stärkt und vertieft die Beziehung und Verbundenheit zur Mitwelt und damit auch die Einsicht und Energie, mit Respekt vor dem Rhythmus des Schöpferischen immer wieder neu Anteil zu nehmen an der Bewahrung und Sorge um Leben, Frieden und Gerechtigkeit.
Auch die Erd-Charta verweist auf diese Bedeutung von Musik, Bildern und Poesie, wenn sie unter IV/14 Kunst und Kultur als wichtige Aspekte von Bildung hervorhebt und in der Version für Jugendliche beschreibt: “Wir brauchen Fantasie, um einen Lebensstil zu entwickeln, der umweltfreundlich und friedlich ist. Die kulturelle Vielfalt auf der Erde ist ein Schatz, in jeder Kultur gibt es alte Träume und neue Ideen, die uns weiterbringen.”
„Am Anfang war der Gesang“, schrieb Ernesto Cardenal in „Cantico Cosmico“. Und weiter heißt es dort: „Deshalb singen alle Dinge. Sie tanzen nur der Worte wegen (…) Alles singt. Die Dinge, nicht aus Berechnung erschaffen, sondern aus Poesie.“
Susanne Brandt
Quelle der Zitate von Dorothee Sölle: https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/001698.html