Tschechien – ein Land der kurzen Wege mit vier direkten Nachbarländern, also mitten in Europa: zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West. Wer morgens an der dänischen Grenze in den EC nach Prag steigt, kann nachmittags am Ziel sein: 7,5 Std. bis zur Grenze, 9 Std. bis zur Hauptstadt – ohne Umsteigen. Dabei überrascht auf relativ kleiner Fläche die Vielfalt an wechselnden Landschaften, hohen Bergen, rauschenden Flüssen, weiten Ebenen, bezaubernden Städten.
Nicht weniger wechselvoll: die alte und neuere Geschichte des Landes.
Unser letzter Reisetag in Prag war diesen Wechseln gewidmet: im alten jüdischen Viertel, inmitten imposanter Architektur, im Prager Literaturhaus…
Lena Reinerovà (1916-2008), Gründerin des Prager Literaturhauses deutschsprachiger Autoren (http://www.prager-literaturhaus.com), verfasste noch kurz vor ihrem Tod eine Rede, die am 25.01.2008 im deutschen Bundestag gehalten wurde. Darin hieß es u.a.:
„Dass wir friedlich miteinander leben wollen und können, ist vielleicht eine Selbstverständlichkeit, die allerdings unterstützt und behütet werden muss. Es scheint mir, dass wir immer noch zu wenig Verständnis für die Lebensart, die Tradition und den Glauben eines sehr großen Teils unserer Mitmenschen auf diesem Planeten aufbringen. Das geschriebene Wort sollte dabei so wirksam wie nur möglich mithelfen.“
(die komplette Rede hier: https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/reinerova/rede_reinerova-246980)
Das war vor 2015, vor 2021, vor dem EU-Asylkompromiss 2023…
Dass Lenke Reinerova, die die Nazizeit in Mexiko überlebt hat, als Jüdin von „unseren Mitmenschen auf diesem Planeten“ spricht, lässt vermuten, dass sie dabei an eine globale Verantwortung denkt.
Eben daran denken inzwischen immer mehr Bürgerinnen und Bürger in Tschechien, wenn sie z.B. eine andere Asylpolitik fordern, die nicht nur Menschen aus der Ukraine willkommen heißt. Oder mehr Anstrengungen für Klimaschutz erstreiten.
Die Zeiten bleiben wechselvoll. Gerade deshalb bleiben Austausch und Verständigung zu Chancen der Mitgestaltung, zur Bedeutung der geschriebenen und gesprochenen Worte in verschiedenen Sprachen, bleiben regionale Erfahrungen und globale Fragen beim gemeinsamen Lernen und Begegnen so wichtig. Daraus ergeben sich immer wieder neue Herausforderungen, auch in der deutsch-tschechischen Beziehung.
Wandernde Zeiger
die Uhr erzählt Geschichten
in bewegter Zeit
Die „Arche“, die am Anfang dieser 10-tägigen Reise stand und mich symbolisch durch die Tage begleitet hat, war und bleibt ein solches grenzüberschreitendes Projekt und Zeichen: Kostbares ist überall gegenwärtig. Gefährdungen und Brüchiges ebenso. Das als Spannungsverhältnis zu begreifen, birgt immer auch ein kreatives Potential. An Musik und Kunst, Literatur, Worten und wertvollen Naturräumen ist das Land so reich. Das allein wird nicht bei allen anstehenden Aufgaben und Gefährdungen die Rettung und Lösung sein. Aber das kann etwas bewegen. Und damit fängt es an…
Zur Erinnerung:
„Wir gehen auf Reisen, nicht um etwas zu gewinnen – um Berge und Gipfel zu erobern -, sondern um uns zu vereinen, zu verlieben und uns zu engagieren; um tiefer zu erfahren, dass das Leben, das wir mit der gesamten Schöpfung teilen, ein Geschenk ist.“ (Mary Oliver)
Susanne Brandt