Im Diskurs um BNE und Nachhaltigkeit kommt ein Schlüsselbegriff früher oder später mit ins Spiel: die Vorstellungskraft.
Neurowissenschaftlerinnen und Klimaforscher, Bildungsexpertinnen und Kulturschaffende wissen und erzählen davon, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten. Vorstellungskraft gehört zum Bildungsansatz „Futures Literacy“ (UNESCO) und zum „dynamischen Denken“, wie Maren Urner es als Neurowissenschaftlerin erläutert.
„Es ist von größter Wichtigkeit, vielfältiger über das Thema Klimawandel zu reden, zu imaginieren und nachzudenken und dabei auch die Gefühle ernst zu nehmen. […] Kulturelle Erzählweisen ermöglichen es, neue Perspektiven einzunehmen und Türen zu neuen Räumen des Vorstellens, Denkens und Fühlens aufzustoßen“, schreibt die Klimaforscherin Birgit Schneider in ihrem Buch „Der Anfang einer neuen Welt“.
Andere kommen mit Argumentationen aus ihrem jeweiligen Fachgebiet zu ähnlichen Einschätzungen: Fehlt uns die Vorstellungskraft dafür, wie Wandel geschieht, für was wir uns auf den Weg machen und mit wem wir uns in diesem Prozess austauschen und verändern, bleibt es bei „vielen guten Taten“. Die sind zwar nicht falsch – aber auch nicht immer das, was wirklich ein gemeinsames Umdenken und Neuwerden in Bewegung bringt.
Vorstellungskraft ist bei allem, was wir planen und tun, eine ganz wesentliche Begleiterin. Sie hilft dabei, Entwicklungen von den Anfängen her zu erkennen, die Gegenwart als veränderlich wahrzunehmen und sich kreativ einzulassen auf das Unvorhersehbare in Zukunft. Angeregt und gestärkt wird Vorstellungskraft durch lebendige Erfahrungen mit Musik und Kunst, Poesie und Geschichten, mit Natur und Weitblick für die Welt, mit Austausch von Ideen und Visionen in einem interdisziplinären Lernprozess. Auch Zielkonflikte und Dilemmata müssen dabei nicht ausgespart werden. Reibung belebt das kulturelle und künstlerische Gestalten.
Zum Beispiel bei der Auseinandersetzung mit den 17 Zielen. Denn möglich scheint diese kaum ohne ein konstruktives Ringen mit Fragen und Widersprüchlichkeiten, die sich dabei auftun. So bieten die 17 Ziele international einen hervorragenden Orientierungsrahmen, der uns an die Komplexität der Herausforderungen erinnert und die Gespräche und Ideen dazu in ihrer Mehrdimensionalität belebt. Eben dafür brauchen wir offene Räume und vielfältige Inspirationen eher als einfache Antworten – und eine Vorstellungskraft, die unsere Neugier und unsere Sehnsucht auch auf mühsamen Wegen der Veränderung wachhält.
Deshalb hatte das Thema auch beim BiblioCON 2023 in Hannover seinen Platz und löste u.a. im Anschluss an den Vortrag „Anders lernen – anders leben“ interessante Gespräche „am Rande“ aus.
(Die Folien zum Vortrag gibt es hier: https://opus4.kobv.de/opus4-bib-info/frontdoor/deliver/index/docId/18381/file/BZSH_Anders_lernen_Anders_leben.pdf)
Erneut aufgenommen wird der Faden ebenso im September mit Musikbibliothekarinnen und Musikbibliothekaren bei der IAML Deutschland Jahrestagung in Lübeck unter dem Titel:
„Lauschen, imaginieren, teilen – Musik und Nachhaltigkeit in unsicheren Zeiten“
(Programm hier: https://iaml-deutschland.info/jahrestagung/)
Das sind Chancen für neue Zugänge und weitere Gespräche. Denn auch, wenn das Interesse an Nachhaltigkeit in Bibliotheken erfreulich zugenommen hat – Ansätze, die über die bekannten Maßnahmen (Leihen – Sparen – Informieren…) hinausweisen, sind eher selten. Doch Beispiele gibt es – in kleinen wie größeren Bibliotheken, in verschiedenen Regionen von Deutschland wie international. Wer sich darin übt, wird die Reihe der Tätigkeiten vielleicht anders beginnen oder fortsetzen:
Wahrnehmen – Fragen – Imaginieren – Austauschen – Hoffen – Handeln…
Und damit sind wir wieder beim Erzählen und Musikmachen, beim Entdecken von Kunst und Natur mit allen Sinnen, bei anders gestalteten Kooperationen – bei einer Vorstellungskraft also, die uns unterschiedliche Perspektiven vor das innere Auge führt: ernüchternd und ermutigend zugleich.
Werden wir so zu Weltretter:innen?
Wer sich vorzustellen versucht, wie das in den Ohren von Menschen im globalen Süden klingt, wird merken, dass da was nicht stimmt.
Nein, wir werden kaum wieder „gut machen können“, was wir im wohlhabenden Teil der Welt über Jahrzehnte zum Schaden an Ökologie, Klima und Gerechtigkeit beigetragen haben.
Und ja, kulturelle Erzählweisen eröffnen andere Möglichkeiten, die unsere Rolle in der Welt nicht schönreden, zugleich aber neue Geschichten und Bilder wecken, mit denen sich eben doch etwas verändern lässt: im solidarischen Umgang miteinander, in der Verbundenheit zur Mitwelt, in der Offenheit für das, was wir nicht in der Hand haben und uns dennoch zu einem engagierten Handeln herausfordert.
Eine wichtige Erfahrung kann also heißen: Demut und Mut brauchen einander.
Und in allem brauchen wir kulturelle Erzählweisen, die unsere Hoffnung nähren.
Drei Fragen sind es deshalb, die mich nun nach BiblioCon 2023 besonders beschäftigen und das Weiterdenken anregen:
- Wie lässt sich die Bedeutung von kulturellen und kreativen Erfahrungen mit Sprache, Poesie, Kunst, Musik neu und anders denken und einbringen in den Diskurs, das Selbstverständnis wie in die Studien- und Ausbildungsgänge von Bibliotheken?
- Wie kann es gelingen, mehrdimensionaler, globaler, offener, experimenteller, unkonventioneller andere Worte, Vorstellungen und Möglichkeiten für Nachhaltigkeit zu entdecken?
- Wie können Schulen ermutigt werden, sich von Bibliotheken einfach mal überraschen zu lassen, statt nur „Lehrplanerfüllung“ zu erwarten? Und was ermutigt Bibliotheken dazu, den Schulen neue Wege für BNE, verbunden mit kultureller Bildung vorzuschlagen – oder besser noch: vorzuleben?
Meine persönliche Hoffnung in Schleswig-Holstein wird bestärkt durch gute Partnerschaften mit den Bücherpiraten und dem Jungen Literaturhaus, mit dem Verein Zukunft Bildung SH und anderen Kulturschaffenden, die uns als Bibliotheken neue Perspektiven aufzeigen und dazu ermutigen, vermehrt interdisziplinär unterwegs zu sein. Gemeinsam entwickelte Projekte und Ideen wie „Das weiße Blatt“, „Stimmen zum Klima“, „Wörter, Holz & Steine“, „Erzählen im Norden“ oder „Welt.Worte.Wandel“ sind von dieser Hoffnung geprägt. Sie alle inspirieren Menschen dazu, Bilder und Erzählungen zu entwickeln für Begegnungen und Konflikte, Visionen und konkrete Handlungsmöglichkeiten in dieser Welt.
Vorstellungskraft hilft eben auch dabei, das alte Spartendenken zu überwinden, in einem gemeinsamen Lernprozess über Zukunftsgestaltung nachzudenken – und durch konkretes Engagement Hoffnung zu teilen.
Links zum Weiterlesen und Vertiefen:
Sonntagsmomente: Das Schöpferische in der Kultur braucht Zäsuren in der Natur
https://lampert-nachhaltigkeit.com/leitartikel-poesie/
https://lampert-nachhaltigkeit.com/faktencheck-vorstellungskraft/
https://lampert-nachhaltigkeit.com/musik-im-wandel-die-slow-music-bewegung/