Heute am Strand: In einigen Abschnitten am Flutsaum bei Ebbe fallen mir verschlungene Zeichnungen auf den Steinen auf – wie mit einem feinen Pinsel und weißer Aquarellfarbe gemalt. Mit dem Finger lassen sich die Linien leicht abwischen. Ich tippe auf salzhaltige Absonderungen, die Strandschnecken oder Wattwürmer bei ihrem Kriechweg auf den Steinen hinterlassen haben. Mir kommt die Bilderbuchgeschichte von der Schnecke und dem Buckelwal in den Sinn, in der die Schnecke einen Hilferuf als Schneckenschleimspur auf den Felsen schreibt. Viele Gedanken, phantasievolle wie reale Möglichkeiten – wer weiß…
Langsam versuche ich die verschlungenen Wege auf dem Papier nachzuzeichnen, erst skizzenhaft mit Bleistift, dann mit Farbstiften nochmal etwas feiner ausgearbeitet. Beides verbindet sich für mich mit dem Gefühl, eine Schrift zu entziffern, ein tastendes Probieren und Deuten, unterwegs auf einer neuen Fährte.
Nicht ich und auch keine anderen Menschen geben hier Muster, Verlauf und Richtung vor. Was ich tun kann: schauen, nachempfinden, mir vorstellen, was sich hier bewegt hat – woher und wohin bleibt offen.
Es ist gut, dabei den Blick über die Spur hinaus zu weiten: Meer und Land, Sonne und Wind, Ebbe und Flut, Sand und Tiere, Sichtbares wie Verborgenes haben ihren Anteil daran, dass sich hier etwas begegnen und bewegen konnte. In diesem Kontext lässt sich die Spur vielleicht als Verdichtung einer verschlungenen Lebensgeschichte lesen – und weitererzählen.
Auf Stein geschrieben
mit verschlungenen Linien
ein Lebensgedicht
Susanne Brandt