Nature Journaling: Wahrnehmen, Zeichnen, Worte (er)finden…

Nature Journaling? Was eigentlich schon eine lange Geschichte hat und in den USA aktuell wieder große Kreis zieht, wird in Deutschland erst hier und da neu entdeckt. Eine treffende Übersetzung ist schwierig: Denn „Naturtagebuch“ lässt eher an eine private Besinnung auf persönliche Befindlichkeiten in der Natur denken. Das kann natürlich auch geschehen – aber Nature Journaling lebt zugleich davon, in einen offenen Austausch mit anderen zu den Aufzeichnungen zu kommen. Genauer gesagt: zu dem, was verschiedene Menschen in ganz unterschiedlicher Weise in der Natur wahrnehmen, skizzieren und notieren. Selbsterfahrung steht eher nicht im Fokus.

Um was genau also geht es? Die Bandbreite an Methoden und Akzenten, die bei Nature Journaling in unterschiedlicher Weise zur Anwendung kommen, ist groß und eröffnet viele individuelle Freiheiten für die Ausgestaltung: Man geht in einen stillen Kontakt oder Dialog mit der Natur, nimmt wahr, skizziert und beschreibt, was da ist, hält auch Fragen und Gedanken fest, die einem dabei in den Sinn kommen und tut das teils in dokumentarischer, teils auch in künstlerisch-gestaltender Form mit Worten, Mal- und Zeichentechniken.

Ganz wichtig: Weder bei den gestaltenden Formen mit Sprache und Skizzen noch bei den naturwissenschaftlichen Aspekten der Beobachtung und Dokumentation steht das eigene Talent und Fachwissen im Vordergrund! Natürlich darf und wird sich dieses mit der Zeit durch Übung und Fragen von ganz allein vertiefen und erweitern. Doch jede und jeder sucht und findet beim Nature Journaling zunächst jene Form, die am besten dazu geeignet ist, sich ganz auf die Wahrnehmung von Details und Beobachtungen in der Natur zu konzentrieren – nicht auf die Perfektion, Optimierung und Präsentation des eigenen Könnens!

Das heißt auch: Ob man ausschließlich mit Bleistift arbeitet oder eine kleine Aquarell-Ausrüstung mit ins Freie nimmt, bleibt der persönlichen Vorliebe überlassen. Und für die Worte bedeutet das: von Zählungen, Beschreibungen, Assoziationen und Fragen bis hin zu poetischen Formen als Ausdruck von Stimmungen ist alles möglich. Inspirierend kann es z.B. sein, dabei auch nach Wortneuschöpfungen zu suchen, um Phänomene zu beschreiben, die sich so weder zeichnen noch mit dem bekannten Vokabular fassen lassen. Solche Neuschöpfungen dienen dann vielleicht als Vorstufe für poetische Formen – Akrosticha, Haikus, Elfchen – die sich damit zu Stimmungsbildern gestalten lassen und diesen so eine ganz eigene Farbigkeit und Originalität verleihen. Eine wunderbare Quelle der Inspiration für Freiluftpoesie!

Aber es kann auch ganz anders gehen: Wer eher an Vogelzählungen und Veränderungen der Vegetation interessiert ist, wird Worte und Zahlen nutzen, um für dieses Interesse möglichst regelmäßig Datenmaterial zusammenzutragen. Wie auch immer: Die einen wie die anderen werden im Prozess der skizzenhaften Aufzeichnungen und Notizen im Freien merken, wie man dabei mit allen Sinnen immer tiefer eintaucht in das, was sich in der Natur vor einem auftut – und wie das Grübeln im Kopf wie auch das Kreisen um sich selbst solange Pause macht!

Wer mag, kann seine Beobachtungen anschließend vielleicht sprachlich oder künstlerisch noch weiter ausarbeiten. Aber auch von einem solchen geplanten „Zweck“ sollte man sich beim Erleben draußen nicht schon ablenken und zu sehr leiten lassen. Eben deshalb gilt auch: Fragen, die sich bei den Beobachtungen ergeben, werden als Fragen notiert und nicht gleich „ergoogelt“. Vielleicht wächst einem die Antwort ja bei der nächsten Beobachtung von alleine zu…

Aprospos Googel & Co.: So asketisch und „aus der Zeit gefallen“ das Zeichnen mit Bleistift in einem Notizbuch aus Papier auch anmuten mag – mit „Technikfeindlichkeit“ hat Nature Journaling nichts zu tun! Zur Freiheit der Gestaltung gehört ebenso, dass z.B. Fotografien in ein Journal mit eingebaut werden können, wenn das in der jeweiligen Situation und Nacharbeit sinnvoll und hilfreich erscheint.

Da gilt: Einfach ausprobieren – und der Unterschied zwischen der Entstehung eines Fotos und einer Zeichnung bei dem, was man wirklich mit allen Sinnen erfassen und weiter bedenken möchte, wird sich zeigen. Bei einem so, bei einer anderen anders.

Mit dieser Freiheit für die Vielfalt an Möglichkeiten treffen sich die Freundinnen und Freunde von Nature Journaling auch nicht zum Wettstreit um die beste Methode, die perfekteste Ausrüstung oder das meiste Wissen, sondern für ein gemeinsames Lernen und Teilen von unterschiedlichen Erfahrungen. So jedenfalls sollte es sein. Und so ist auch dieser Beitrag zum Thema als Anfang zu verstehen.

Und so erzählen andere davon: https://wiederwilderwerden.de/wasistnaturejournaling

Fortsetzung folgt…

Ach ja – bei meinem heutigen Spaziergang am Waldrand ist dann am Ende doch noch ein Akrostichon als Stimmungsbild entstanden – aus den Wörtern „Windgefährten“ und „Hauchhälmchen“, die mir beim genauen Blick auf eine Pusteblume in den Sinn gekommen sind:

Wiesenduft –

Ich sitze am Waldrand.

Nichts regt sich.

Der Wind hält Mittagsschlaf.

Gräser vergessen das Zittern.

Ein zarter Tag,

Flüstert die Pusteblume und

Ändert ihren Namen:

„Hauchhälmchen“

Raunt sie mir zu und

Teilt sich schwebend aus an den Wald,

Eins geworden mit dem schläfrigen Wind

Nur einen feinen Atemzug lang: Zzzzzzzzssssssssssss….

 

Susanne Brandt

Mehr zu Nature Journaling auch hier als Einführung

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt