Wahrnehmen und weiter sehen – Janusz Korczak heute

Janusz Korczak heute? Erstaunlich aktuell, visionär, inspirierend zum Weiterdenken…

Zugleich heißt das aber auch: Man darf und man muss die Texte kritisch lesen. Nichts davon ist aufgeschrieben mit dem Anspruch auf mehr als 100jährige Gültigkeit. Das Erproben und Verwerfen, Irrtum und das Eingeständnis von Fehlern gehörten für sein Schreiben und Wirken elementar dazu. Das gilt es im Blick zu behalten, wenn wir nach der Bedeutung seiner umfassenden Aufzeichnungen, Beobachtungen und Ideen für Bildungskonzepte in unserer Zeit fragen.

Beschäftigt haben wir uns im Rahmen der wissenschaftlichen Weiterbildung zur Korczak-Pädagogik an der Hochschule Koblenz u.a. mit aktuellen Anforderungen wie Partizipation, Medienbildung, nachhaltige Entwicklung und Resilienz in Krisenzeiten, die zwar nicht mit diesen Begriffen, wohl aber in der Achtung vor den Rechten und Bedürfnissen des Kindes in einer herausfordernden Welt schon vor 100 Jahren im Zentrum von Korczaks Pädagogik standen.

 

Oft zu knapp bemessene Zeit und Zuwendung

Dabei zeigt sich: In manchem sind wir leider wieder weit hinter das zurückgefallen, was Korczak damals bereits erkannt und umgesetzt hat. Auch oder gerade weil seither viele Bildungsthemen neu dazu gekommen sind, bleiben heute Zeit und  Zuwendung, die Kinder bräuchten, um z.B. ihre jeweils eigenen Anliegen zu artikulieren, aufzuschreiben und mit anderen auszuhandeln, oft viel zu knapp bemessen.

Wann haben Kinder im Bildungsalltag Zeit zum Träumen, können in der Natur eigene Erfahrungen mit Gelingen und Misserfolgen sammeln, Regeln des sozialen Miteinanders untereinander aushandeln und sich mit den Erwachsenen als gleichwürdige Menschen partnerschaftlich verständigen ? Und wo lässt die Gruppengröße in Kita und Schule ein solches Eingehen auf individuelle Ideen, Zeit- und Gesprächsbedürfnisse der Kinder zum freien Gestalten noch zu?

Wichtige Elemente in Korczaks Pädagogik wie z.B. die „Kleine Rundschau“ als anerkannte und wöchentlich gedruckte Zeitung, für die die Kinder selbst die Inhalte bestimmen und verfassen, brauchen eine intensive und einfühlsame Begleitung, was in dieser Form heute oft nur als Projekt zu leisten ist. Dabei wäre ein vermehrtes Lernen durch eigenes Reflektieren, Recherchieren und Erarbeiten von Themen für viele Kinder und Jugendliche nachhaltiger als das Lernen und Wiedergeben von Inhalten, die dem Kind oft wenig Chancen und Anreize bieten, sich intensiv und persönlich damit zu verbinden.

Wenn heute gern davon gesprochen wird, „Kindern eine Stimme zu geben“, ist schon die Formulierung entlarvend. Denn eine Stimme und vielfältige Möglichkeiten, sich auszudrücken, haben Kinder von Anfang an – nur wird das viel zu selten wahrgenommen, geachtet und bei Bildungsprozessen wie im Zusammenleben bewusst mit berücksichtigt.

Zum Glück gibt es auch heute inspirierende Beispiele für das Mögliche: Was sich entwickeln kann, wenn Kinder ermutigt werden, ihre Vorstellungen, Geschichten und Bilder für Publikationen auszuformulieren, miteinander zu diskutieren und zu gestalten, zeigen aktuelle Erfahrungen mit den www.bilingual-picturebooks.org bei den Bücherpiraten in Lübeck.

Korczaks Aufzeichnungen und Gedanken zu diesen und anderen Themen zeugen von einer sehr genauen Wahrnehmung und Beobachtung, um Kinder besser zu verstehen und eine liebevolle Beziehung zu ermöglichen, in der Kinder wie Erwachsene um das Gute wie um das Schmerzliche, Verletzliche und Verletzende auf beiden Seiten wissen, vergeben wie um Entschuldigung bitten können. Gern mit Humor!

 

Wahrnehmen, vertrauen und ermutigen

Was wir heute „authentisch“ nennen, meint genau das: dem Kind erwachsen begegnen – aber nicht im Sinne einer Überlegenheit, sondern mit Erfahrungen, die sich von kindlichen Erfahrungen unterscheiden und diese gleichzeitig achten und ernstnehmen.

Da hilft kein Rezept, sondern vielmehr ein wachsendes Gefühl und Vertrauen in das Kindliche wie eigene Sosein – mag es nun eher energisch oder zurückhaltend, künstlerisch ambitioniert oder technisch versiert sein. Kinder lassen sich nichts Falsches und Unechtes vormachen, verzeihen aber meistens ganz unkompliziert Fehler und Schwächen bei Erwachsenen, die offen angesprochen werden. Und fühlen sich so auch selbst in Ihrem Sein eher wahrgenommen und geliebt.

Wie passt das alles nun zu aktuellen Bildungsbereichen – beispielsweise zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) – die mit ihrer Zukunftsorientierung gern klare Wegmarken setzt und Themen anspricht, die eher aus der Erwachsenenperspektive eingebracht werden?

 

Mit dem Recht auf den heutigen Tag weiter sehen

Vielleicht so:

  • Wer auf die Fragen achtet, die Kinder beschäftigen, findet erste Anknüpfungspunkte zu Naturentdeckungen, sozialen Erfahrungen oder Sorgen um Frieden und Gerechtigkeit von ganz allein, sollte dann aber auch bei der Beschäftigung damit den Kindern ihren Spielraum für Deutungen und Lösungsideen lassen.
  • Wer das Recht auf den heutigen Tag (Korczak) an den Anfang stellt, öffnet für alles, was danach und auch in Zukunft kommen kann, einen Raum, in dem Mut, Vertrauen und Visionen wachsen können.
  • Wer Kinder heute in ihrer Gestaltungskompetenz wirklich ernst nimmt, kann darauf hoffen, dass sie ihre Gestaltungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten immer wieder neu zu entfalten und einzubringen wissen.
  • Wer Zeiten und Freiräume lässt, in denen Kinder sich mit Umwelt, Natur und ihren Mitgeschöpfen intensiv, staunend und wertschätzend vertraut machen können, gibt der Liebe zum Leben eine gute Chance.
  • Wer von dieser Liebe in Geschichten erzählt, stärkt die Phantasie und Vorstellungskraft, mit der Kinder eigene ermutigende Bilder entwickeln können.

Zum Weiterlesen: www.korczak-forum.de

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt