Vom Glück des Zufalls oder Mit Märchen (andere) Wege suchen

Forschung und Naturwissenschaften haben erstmal nichts mit „Märchenstunden“ zu tun. Und doch: Manchmal können Märchen mit dazu beitragen, in Forschung und Wissenschaft die Auseinandersetzung mit dem Unvorhersehbaren zu thematisieren. Denn häufiger als gedacht spielen Zufälle mit hinein in Erkenntnisprozesse – und mit eben dieser grundlegenden Erfahrung liefern manche Märchen eine Idee für den oft verschlungenen Weg zum Ziel, der sich bereits mit jüngeren Kindern anschaulich erschließen lässt.

So befasst sich z.B. eine Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts mit der Denkfigur von Serendipity als Ansatz für wissenschaftliche Forschung und Erkenntnis, die ihren Ursprung tatsächlich in einem Märchen hat:

https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/sites/default/files/P497_0.pdf

Der Verfasser des Aufsatzes, Joachim Nettelbeck, kommt dabei zu dem Schluss: Entscheidend ist, das prozesshafte Ineinandergreifen von Beobachtungen und Zufällen in Verbindung mit einer Absicht zu bringen – auch und gerade in der wissenschaftlichen Forschung. Er beschreibt diesen Prozess als eine wahrnehmende und staunende Haltung mit besonderer Aufmerksamkeit für die zufälligen Randerscheinungen. Eine solche Haltung macht das oft überraschende Zusammenspiel von Kombinationsgabe, Scharfsinn und Veränderung überhaupt erst möglich.

Und eben darum geht es im Märchen von den drei Prinzen von Serendip, das dem Serendipity-Prinzip seinen Namen gab:

Sonntagsmomente: Die drei Prinzen von Serendip oder Vom Glück der unerwarteten Augenblicke

Das Motiv von der Wanderung, bei der am Wegrand eher zufällige Dinge aufgesammelt oder wahrgenommen werden, die sich später als überraschend hilfreich und rettend erweisen, lässt sich in vielen Märchenvariationen aus aller Welt entdecken – wenn auch nicht immer als  Serendipity im umfassenden Sinne.

Auf unterschiedliche Weise erzählen sie von zunächst eher unsinnig anmutenden Wahrnehmungen und Entdeckungen am Rande, die erst im weiteren Verlauf ihre Bedeutung entfalten.

Einige dieser Märchen lassen sich auch schon mit jüngeren Kindern gut erschließen, z.B.

  • Der Tölpel-Hans (Hans Christian Andersen)
  • Die Bienenkönigin (Gebrüder Grimm)
  • Kleine Sachen können viel machen (aus Persien, s. in: Die Erde ist ein großes Haus)

So verschieden diese Geschichten auch sein mögen – für sie alle gilt: Wer auf dem Weg zum Ziel nur starr nach vorn schaut, um so schnell wie möglich voran zu kommen, kann sich am Ende nicht sicher auf das erhoffte Gelingen verlassen.

Anders ergeht es denen, die intensiv in alle Richtungen schauen und auch das nicht gering schätzen, was am Wegrand Zeit und Aufmerksamkeit fordert – ohne immer gleich zu wissen, warum.

Alle drei hier genannten Geschichten bieten viele Bilder und Materialien, um diese mit Kindern zunächst spielerisch und sinnlich in ihrem Verlauf zu erschließen und zu gestalten.

Ein Beispiel dafür bietet z.B. ein deutsch-dänisches Projekt zum „Tölpel-Hans“ (ermöglich im Rahmen eines grenzüberschreitenden Erzählweg-Projekts von „Kulturfokus“), das in Flensburg und Kollund von Kita-Gruppen einmal mit Installationen zu den einzelnen Stationen in der Natur dargestellt worden ist und mit einer anderen Gruppe mit Bildgestaltungen zu einem einfachen Lied, das das Märchen mit wenigen Worten übersichtlich nacherzählt:

Es geht in dem Märchen um drei Brüder, die darauf hoffen, die Prinzessin heiraten zu dürfen. Diese wünscht sich einen Mann, der schlagfertig und gewitzt mit Worten umgehen kann. Und die beiden klugen Brüder bereiten sich gründlich darauf vor, ihre sprachlichen Fähigkeiten im Könisgsschloss unter Beweis zu stellen, lernen Texte auswendig und brechen auf mit den Köpfen voller Vokabeln, Wendungen und Weisheiten. Tölpel-Hans allerdings, der dritte Bruder, den die anderen für einen Dummling halten, kann alles das nicht vorweisen. Stattdessen macht er sich mit offenen Augen auf den Weg zur Prinzessin, sammelt hier eine tote Krähe, dort einen kaputten Latschen und schließlich noch zwei Hände voller Schlamm. Am Ziel angekommen, läuft für die beiden klugen Brüder alles ganz anders als erwartet. Irritiert und aufgeregt fallen ihnen im entscheidenden Moment die richtigen Wörter nicht ein. So ist es am Ende der Tölpel-Hans mit seinen seltsamen Geschenken, der die Prinzessin durch seine originellen Ideen, seinen Humor und seinen Mut beeindruckt.

Was hat das alles mit „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ und „nachhaltig erzählen“ zu tun, mit einer Haltung also, die auf der Suche nach guten Lebensmöglichkeiten in Zukunft auch tradierte Geschichten befragt?

Die Antwort darauf hängt untrennbar zusammen mit der Inspiration zur sinnlichen, lebendigen und kreativen Erschließung solcher Geschichten für und mit Kindern.

Erfahrbar wird dabei…

  • die Bedeutung von genauer Wahrnehmung in Umwelt und Natur, gerade auch für kleine Dinge.
  • die Begrenztheit aller Vorhersagen: Wie haben es immer wieder mit komplexen Themen zu tun, bei denen nicht schon heute sicher absehbar ist, was morgen helfen könnte. Aber manchmal kommt es unterwegs auf kleine, vermeintlich unbedeutende Entdeckungen an…
  • die Gestaltungslust und Kombinationsgabe beim eigenen kreativen Umgang mit Dingen, Sprache und Motiven, die zu Veränderungen beitragen.

Alles das kann geschehen, wenn man vielfältige Wege der Entfaltung und Vertiefung solcher Geschichten erprobt: mit Naturerfahrung, künstlerischem Gestalten, Musik, Spiel, Fantasie.,.

Dabei können solche Märchen mit ihren Erzählmustern dann auch als Inspiration für eigene „Weg-Geschichten“ dienen.

  1. Da macht sich jemand auf den Weg.
  2. Da gibt es ein Ziel, das vor Augen steht.
  3. Da passiert etwas unterwegs: eine Unterbrechung, Entdeckungen, Hindernisse, Irritationen, Gefahren, die das Vorankommen erschweren.
  4. Da tut sich eine Lösung / Rettung auf.
  5. Da endet der Weg hoffnungsvoll.

Im Sinne einer „5-Finger-Geschichte“ (s. dazu „Die Erde ist ein großes Haus“) lassen sich schon mit Kindern, die noch nicht lesen und schreiben können, alte Erzählmuster nutzen und mit eigenen Entdeckungen neu gestalten.

So können z.B. bei einem Spaziergang im Freien zunächst „Schätze“ gesammelt werden, die sich am Wegrand entdecken lassen: eine Feder, ein Stein, eine Kastanie o.ä.

Anschließend wird miteinander geschaut und überlegt, welche Bedeutung diese Dinge haben könnten. Im Dialog entwickelt sich daraus nach und nach eine Geschichte: Wer macht sich auf den Weg? Wohin soll es gehen? Wie kommen unterwegs die gefundenen Schätze ins Spiel? Und wie helfen sie dabei, das Ziel zu erreichen?

Jüngere Kinder bringen hierzu vielfältige Ideen ein, werden aber Hilfe brauchen, den roten Faden nicht aus den Augen zu verlieren. Die dialogische Entwicklung der Geschichte, orientiert an den fünf Fingern einer Hand, trägt hier also dazu bei, dass die Kinder sich mit ihren Ideen gehört wissen und aktiv an der Gestaltung einer Geschichte beteiligen können. Ein Prozess, stets offen für Überraschungen – gern auch mit einer guten Portion Humor, der das Zutrauen ins Leben und die eigenen Veränderungsmöglichkeiten stärkt.

 

Susanne Brandt

Vom Glück des Zufalls

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt