Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), verbunden mit sprachlichen und kulturellen Erfahrungen weiterdenken – gerade jetzt in Zeiten der Pandemie? Das gehört in diesen Wochen und Monaten zu den besonderen Herausforderungen vieler Bildungsinitiativen und Bibliotheken, auch im Blick auf die Situation von Familien. Folgende Überlegungen, Impulse und Praxis-Beispiele, die als Beitrag zu “nachhaltig erzählen” bei der Büchereizentrale Schleswig-Holstein erarbeitet worden sind, geben dazu einige Anregungen:
Frühjahr 2020: Eine Pandemie hat den gewohnten Alltag verändert. Vertraute Dinge sind plötzlich nicht mehr möglich. Andere Herausforderungen und Empfindungen treten stärker in den Vordergrund, bestimmen das Denken, Handeln und Entscheiden: Spürbar werden Mitgefühl und Fürsorge, Solidarität und Zusammenhalt, aber auch Ängste und Anspannung, Einsamkeit und Sehnsucht nach Freiheit, Konflikte, Gefühlsschwankungen und Verunsicherung, Unruhe und Geduld, Hoffnung für die Zukunft und die Vorläufigkeit aller Planungen. Kinder erleben all diese Dinge auch, aber anders als Erwachsene. Individuell ist der Umgang damit sehr unterschiedlich. Zugleich verbringen Familien jetzt auf engerem Raum deutlich mehr Zeit miteinander als sonst.
Es gibt kein Patentrezept, das Entlastung und Hilfe in dieser Situation verspricht. Aber es gibt Erfahrungen und Ressourcen, die sich schon in anderen Krisensituationen der Menschheitsgeschichte als wohltuend und hilfreich für Körper und Seele erwiesen haben. Bewegung gehört dazu. Und das Erleben von Natur. Denn der Blick über die eigenen vier Wände, über das nun als enger empfundene Leben hinaus in den weiten Himmel, hoch zu den Spitzen der Bäume oder tiefer hinein in die erstaunlichen Zusammenhänge des Lebens vor der eigenen Haustür, stärkt das Mitgefühl, die Beziehung und Verbundenheit zur Welt im Kleinen wie im Großen.
Über die eigenen vier Wände hinausschauen
So sensibilisiert uns die Pandemie als weltweites Geschehen zugleich für eine globale Dimension. Die Medien liefern dazu Nachrichten von allen Kontinenten ins Wohnzimmer. Aber was das Leben auf der Welt so kostbar und verletzlich macht, dass wir uns darum sorgen, auf Heilung und Schutz für die Schwächeren hoffen, das erleben wir auch und anders durch die sinnliche Wahrnehmung des Lebens mit seinen Schönheiten und seinen Gefährdungen vor der eigenen Haustür.
Und noch etwas Drittes kommt hinzu: Immer haben sich Menschen Geschichten erzählt, wenn es galt, Notsituationen durchzustehen, einander Mut zu machen und Sinnzusammenhänge zu verdeutlichen, die selbst im Chaos und in der Bedrohung noch zu entdecken sind. Alles das sind Erfahrungen, die Menschen in aller Welt miteinander verbinden und die aktuell vor dem Hintergrund der Pandemie gerade in Bibliotheken wieder an Bedeutung gewinnen[1]: Freshta Karim, die in Afghanistan ein Bücherbus-Projekt für Kinder aufgebaut hat, sieht deshalb jetzt in der Krise eine wichtige Aufgabe darin, Kindern und Familien weiterhin Zugänge zu Geschichten zu öffnen, weil diese dabei helfen können, mit Ängsten und Belastungen besser umzugehen. Und auch für Margkee Garcia, Leiterin der Deutsch-Nicaraguanischen Bibliothek in Managua geht es in dieser Zeit nicht nur um die körperliche, sondern ebenso um die psychische und emotionale Gesundheit.
Bücher und Geschichten vermitteln dabei, so weiß sie, einen sicheren Halt und bestärken die Menschen darin, ihre eigene Geschichte zu bedenken. Das Erzählen – überliefert oder aus dem eigenen Erleben heraus in Worte gefasst – scheint also vor dem Hintergrund der aktuellen Krisenerfahrungen weltweit in vielfältiger Weise Orientierung zu geben. Wo Gedanken sich durch Geschichten ordnen, klären sich Zusammenhänge. Der Horizont wird weit – und schon kommen wieder Bilder aus der Natur mit ins Spiel…
Horizont erweitern und Zusammenhänge entdecken
Auch in den Bibliotheken von Schleswig-Holstein waren sprachanregende Projekte[2] zur Begleitung von Familien, Kitas und Grundschulen in den vergangenen Jahren von solchen Erfahrungen geprägt: Erzählen geschieht im täglichen Leben miteinander beim Wahrnehmen und Deuten der Dinge im vertrauten Umfeld, durch das Hören auf die Fragen der Kinder, beim Spielen und Bewegen, Malen und Basteln, im Haus, in der Nachbarschaft, in der Natur.
Erzählanlässe und Geschichten, die ihren Bildervorrat aus der Umwelt und Natur schöpfen, gehören zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, bei der sich das Erleben hier und heute mit Ideen für die Zukunft verbindet: Kinder staunen, denken und entdecken ganz in der Gegenwart – aber das, was sie dabei an Mitgestaltungsmöglichkeiten und Inspiration zum Weiterdenken erfahren, kann sich in der Zukunft als Schlüssel im Umgang mit den dann wichtigen Fragen und Herausforderungen erweisen. Wie und was das genau sein wird – das können wir heute nur ahnen.
Umsicht üben im Freien – wie und warum?
Was heißt das nun alles für die Zeit der Kita- und Schulschließungen, der geschlossenen Bibliotheken, abgesagten Veranstaltungen, eingeschränkten Kontakte und stornierten Urlaubsreisen für Familien?
Die Beispiele in der nachfolgend verlinkten Arbeitshilfe der Büchereizentrale Schleswig-Holstein können dazu anregen, gemeinsam mit Kindern Wege ins Freie zu entdecken – im Alltag, in den Ferien, im Wald, auf Wiesen oder im eigenen Garten, an weniger belebten Seitenstraßen oder im kleinen Park nebenan – stets mit der nötigen Umsicht zum Schutz anderer Menschen, die dabei geboten ist. Selbst am offenen Fenster oder auf dem Balkon öffnet sich der Blick anders als im geschlossenen Raum.
In vielfältiger Weise lassen sich vor der eigenen Haustür solche Freiräume für Bewegung, Sinneswahrnehmung und Körpererfahrung finden, die sich mit Geschichten verbinden und überraschende Erzählanlässe bieten.
Denn sprachliche Entwicklung und Kreativität sind angewiesen auf einen lebendigen Austausch mit dem, was uns berührt und umgibt. Das geht auch im Haus – aber mehr noch bewirken Bewegung und Wahrnehmung unter freiem Himmel, die Resonanz der Begegnung mit der Natur, mit dem vertrauten Umfeld wie mit dem Fremden und Erstaunlichen eine Belebung der Erzähllust und Fantasie.
Internationale Impulse zum Thema:
https://www.findingnature.org/
https://www.childrenandnature.org/2019/06/24/welcome-to-the-natural-library-the-essential-role-of-libraries-in-creating-nature-rich-communities/
Vielfältige Sinneswahrnehmungen als Chance
Elementare und inspirierende Erfahrungen, die im nahen Wald oder am Bach, im Park, im Garten oder sogar auf dem Balkon möglich werden, lassen sich nicht genau planen oder vermitteln. Hier nur ein paar Beispiele für das, was dabei geschehen kann…
- vielfältige Sinneswahrnehmungen, die den Wortschatz und das Ausdrucksvermögen bereichern
- eine emotionale Verbindung zum Lebendigen um uns herum, das als beglückend und als verletzlich erfahren wird
- eine wertschätzende Beziehung zur Umwelt, die sich aus dieser Verbundenheit entwickeln kann
- das Begreifen von Zusammenhängen durch erkennbare Veränderungen und Kreisläufen in der Natur
- die Suche nach Sinn in solchen Zusammenhängen und durch eigene Fragen
- vertraut werden mit einem Symbolvorrat für die Selbst- und Weltdeutung
- die Verarbeitung von Erfahrungen durch freies Spiel und Bewegung, durch Erzählen mit Fantasie und natürlicher Neugier
- gemeinsames Staunen und Weiterdenken im Dialog mit Erwachsenen als sensible Begleiter
Was nötig ist, um alles das auch unter den eingeschränkten Bedingungen in Zeiten der Pandemie als Familie zu erleben? Eigentlich nur die Lust und Bereitschaft, miteinander ins Freie zu gehen, Umsicht zu üben mit Rücksicht auf andere Menschen und die Aussicht zu genießen auf einen erweiterten Horizont. Denn der öffnet sich durch Geschichten, zeigt sich in der Natur und wird erfahrbar durch Bewegung.
Die Beispiele der Arbeithilfe, die im Rahmen von www.nachhaltig-erzaehlen,de erstellt worden ist, wollen Mutmacher und Inspirationen dafür sein – und ein Anfang für viele weitere Ideen.
Hört einfach zu, was die Kinder draußen noch alles zu erzählen haben…
Susanne Brandt / (Gedanken zu Corona im April 2020)
Arbeitshilfe zum Download: Arbeitshilfe Geschichten in der Natur
Literatur zum Weiterlesen:
- Praxis-Material: https://www.donbosco-medien.de/zusammen-daheim-geschichten-bauen-mit-dingen-aus-der-natur/b-707/625
- “Vor der Haustür die Welt” in der Praxis: binational erprobt mit Daniela Skokovic und der Bibliothek Pozega/Serbien – zweisprachiges Ergebnis der gemeinsamen Aktion hier http://waldworte.eu/2020/04/21/von-der-erde-erzaehlen-ueberall-auf-der-welt-eine-aktion-zum-earthday-2020/
- Naturbildung im Gespräch / Hrsg. Deutsche Wildtier Stiftung, Berlin 2020
- Rodari, Gianni: Grammatik der Phantasie. Die Kunst, Geschichten zu erfinden. Leipzig, 1992 ff.
- Brandt, Susanne: Die Erde ist ein großes Haus. Don Bosco Verlag (ersch. 09/ 2020)
[1] Ausführlicher Erfahrungsbericht aus verschiedenen Ländern vgl. Zeitschrift BuB, Heft 5 im Mai 2020
[2] Vgl. Veröffentlichungen der Büchereizentrale Schleswig-Holstein zu „Mit Worten wachsen“, „LeseLachmöwe“ und „Das weiße Blatt“ sowie allgemein unter http://www.nachhaltig-erzaehlen.de
Auch interessant zum Thema
Schatzsuche im Wald:
https://www.donbosco-medien.de/zusammen-daheim-schatzsuche-im-kuenstlerwald/b-699/599