Die letzten zehn Tage war ich viel auf Reisen. Menschen aus verschiedenen Ländern sind mir begegnet: aus Indien und aus Lateinamerika, aus Italien, Österreich und der Schweiz. Die Anlässe unserer Treffen und Gespräche an verschiedenen Orten waren ganz unterschiedlich – und doch: Im Rückblick auf die ereignisreiche Zeit, die hinter mir liegt, nehme ich auch Verbindendes wahr. Es ging bei all diesen Begegnungen um die Beziehung zwischen Kultur und Umwelt, um Sprache als Verbindung zwischen innen und außen, um Brücken zwischen Kunst und Natur, um das Schöpferische, das in jeden Menschen hineingelegt ist und zur Entfaltung gebracht werden kann.
„…und warte auf einen Lichtfang“ – Poesie als Ausblick ins Freie
Gedichte erzählen davon – mit den Worten von Annakutty Valiamangalam, die ich bei der Preisverleihung zum Hildesheimer Literatur-Wettbewerb kennen lernen durfte, klingt das so:
Das Bild, das mit diesem Text aufleuchtet, hat mich beim Weiterreisen begleitet: Ich sehe vor mir das Fenster als Mauerdurchbruch. Nein, nur einen Spalt davon, der die Verbindung nach außen erlaubt, breit genug, um ein Netz durch den Spalt ins Freie zu lassen. Dahinter scheint sich das Netz zu weiten, sobald es die Enge des Spaltes überwunden hat und sich im Buchstabenmeer ausbreiten kann. Was lässt sich dort einfangen? Licht in der dunklen Nacht – so die Hoffnung. Das Bild in meinem Kopf wirkt spannungsvoll durch seine Gegensätze: ein Spalt in der Mauer, Licht in der Dunkelheit, die Weite hinter der Enge. Mir wird durch Annakuttys Text neu, in anderen Farben bewusst, was auch mich beim Schreiben meines Textes „Wir üben Futur“ bewegt hat: diese Sehnsucht, durch Sprache in Verbindung zu kommen mit der Welt, vielleicht mit der noch unvertrauten und verschlossen wirkenden Welt einer Sprache, die sich fremd anfühlt.
https://soundcloud.com/user-114106965/preisverleihung-literatur-wettbewerb-2017
Menschen stärken: Brot und Kunst
Das Thema findet für mich einen fließenden Übergang zum nächsten Tag, der der Kulturarbeit von Pan y Arte in Nicaragua gewidmet ist: In den Räumlichkeiten des Instituts für Kulturpolitik der Uni Hildesheim begreife ich durch Begegnungen, Gespräche und Erfahrungsberichte, wie Sprache und Poesie, Kunst und Musik das Schöpferische im Menschen wecken und als befreiende Kraft entfalten können.
Mir kommt das Gedicht von Annakutty wieder in den Sinn: Auch bei dem, was Menschen in Nicaragua mit Kultur bewegen, scheinen Mauern durchbrochen zu werden. Kinder finden Zugang zu seelischen Nahrungsquellen, die sie für ihr weiteres Leben stärken können. Das geschieht dort, wo sie leben, mitten in ihrer natürlichen Umwelt: lichtdurchflutet, mobil, mit Mitteln und Medien, die sie nicht in Abhängigkeit, sondern zu eigenen Möglichkeiten der kreativen Mitgestaltung führen. Nachhaltig könnte man das nennen. Aber das klingt farblos und theoretisch. Und genau das ist die nachhaltige Kulturarbeit in Nicaragua eben nicht – vielmehr bunt, lebendig, sinnlich.
Gemeinsame Ziele – verschiedene Wege
Ortswechsel: In Wien geht es einige Tage später mit Kolleginnen und Kollegen aus 4 Ländern erneut um Nachhaltigkeit. Genauer gesagt: Es geht um die Frage, wie Bibliotheken sich im Spannungsfeld zwischen Kultur und Umwelt bewegen, was sie vielleicht bewirken können für eine globale Entwicklung, die sich an den 17 Zielen der UN-Agenda 2030 orientiert. Ich merke, dass wir uns der umfassenden Thematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit verschiedenen Interessen nähern. Ich weiß es zu schätzen, dass wir uns für diese wichtige Frage aus verschiedenen Ländern auf den Weg gemacht haben. Und ich merke am Ende einer langen Sitzung, dass wir damit erst am Anfang stehen und möglicherweise auf unterschiedlichen Wegen weitergehen werden.
Für mich wäre dieser Sitzungstag blass und kraftlos geblieben ohne die Erfahrungen und Eindrücke, die ich zuvor durch Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt sammeln konnte. Ohne das Gedicht von Annakutty, ohne die Impressionen aus Nicaragua, ohne die Begegnungen mit Menschen aus Afghanistan und dem Iran in meinem Alltag wären die globalen Ziele einer Agenda für eine gerechte und lebenswerte Welt auch für mich vielleicht nur ein Aufgabenkatalog, den man „abzuarbeiten“ hat, mit dem sich einige vielleicht sogar schmücken und profilieren wollen, den man zur Lobbyarbeit gebrauchen und dabei allzu leicht missbrauchen kann.
Hineingenommen in die sich immer intensiver einprägenden Begegnungen mit Menschen und Lebensräumen nah und fern gewinnt das Thema für mich eine ganz andere Farbe und Tiefe: Es geht darum, einander in den so unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten wahrzunehmen und sich gegenseitig in den Möglichkeiten der Mitgestaltung zu bestärken. Es geht – wieder und wieder in vielfältigen Facetten – um das Schöpferische in jedem Menschen, das verschüttet, unterdrückt, aber ebenso neu belebt und zur Entfaltung gebracht werden kann: durch Sprache und Poesie, durch Kunst und Musik, durch offene Sinne füreinander. Es geht um eine Wahrnehmung, die in der Umwelt wie in den Menschen das Lebendige und Verbundene erkennt und aus dieser Erkenntnis heraus Kreativität und Kompetenzen für eine nachhaltige Entwicklung ausbildet.
Träume ernten – schöpferisch statt erschöpft leben
Deshalb war es mir persönlich ein Anliegen, die Tagung in Wien mit einem Besuch im Hundertwasserhaus abzurunden und in seiner Philosophie und Kunst so manches in Sprache und Bildern nochmal anders gesagt und gedeutet zu finden, was ich die Tage zuvor mit Menschen erlebt habe.
Dazu einige Hundertwasser-Zitate, die die Gestaltung des Wiener KunstHauses wie die Bilder und Modelle des Künstlers nicht erklären, jedoch in einen Deutungszusammenhang stellen:
„Unser wahres Analphabetentum ist nicht das Unvermögen, lesen und schreiben zu können, sondern das Unvermögen, wahrhaft schöpferisch tätig zu sein.“
„Die einen behaupten, die Häuser bestehen aus Mauern. Ich sage, die Häuser bestehen aus Fenstern.“
„Der unebene Boden ist eine Melodie für die Füße.“
In seiner Kunst wie Philosophie finde ich sie wieder: die Fenster, die die Mauern durchbrechen und den Menschen so Zugänge ins Freie öffnen, das Schöpferische als tiefe Quelle der Transformation, das Gefühl für die Erde, auf der wir stehen und gehen – nicht immer gradlinig, aber hoffentlich immer mit Musik!
Susanne Brandt