Sprache lebt von Bildern. Genauer gesagt: Ihre Lebendigkeit offenbart sich durch verschiedene Blickwinkel und Hintergründe beim Denken und Deuten von Worten. Mit einem dieser Worte ist mir das kürzlich mal wieder neu bewusst geworden: Verwurzelung. Wer dabei zunächst an Stillstand und Sicherheit denkt, wird schnell merken: Verwurzelung hat eher mit Beweglichkeit und Beziehungen zu tun. Und auch mit Gefährdung. Das Wort begegnete mir in den letzten Wochen gleich drei mal auf unterschiedliche Weise. Ein guter Grund, um genauer hinzuschauen.
Verwurzelung als Bedürfnis der menschlichen Seele (Simone Weil)
Zunächst im Urlaub beim Besuch einer Ausstellung der Friedensbibliothek in einem Text von Simone Weil – dort war zu lesen (was heute nicht ganz leicht zu verstehen ist ohne den Kontext jener Zeit, in der Simone Weil von der „Verwurzelung“ quasi als ihr Vermächtnis schrieb):
„Die Verwurzelung ist wohl das wichtigste und am meisten verkannte Bedürfnis der menschlichen Seele. Es zählt zu denen, die sich nur sehr schwer definieren lassen. Der Mensch hat eine Wurzel durch seinen wirklichen, aktiven und natürlichen Anteil am Dasein eines Gemeinwesens, in dem gewisse Schätze der Vergangenheit und gewisse Vorahnungen der Zukunft am Leben erhalten werden (…) Der Austausch von Einflüssen zwischen sehr verschiedenen Lebensräumen ist nicht weniger unentbehrlich als die Verwurzelung in der natürlichen Umgebung. Aber ein bestimmter Lebensraum darf einen äußeren Einfluss nicht als Beitrag empfangen, sondern als einen Antrieb zur intensiveren Gestaltung seines eigenen Lebens.“
Auszug aus: Simone Weil: »Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber.« Aus dem Französischen von Marianne Schneider, © diaphanes, Zürich 2011 (erstmals 1949 posthum)
Verwurzelung als Kriterium für eine Aufenthaltserlaubnis
Wenige Tage später begegnete mir der Begriff erneut – bei dem Bemühen, für einen seit Jahren geduldeten Geflohenen im Rahmen des geltenden Rechtes eine Aufenthaltserlaubnis zu erwirken. Hierbei spielt die Verwurzelung im neuen Lebensraum – so das Gesetz – eine entscheidende Rolle. Jemand, der nach jahrelanger Duldung das Recht hat, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bitten, muss dazu nachweisen, hier inzwischen verwurzelt zu sein. Aber wie lässt sich eine solche Verwurzelung nach den Regeln bürokratischer Prüfmechanismen belegen? Und was legitimiert dazu, ausgerechnet bei denen eine nachweisbare Verwurzelung einzufordern, die im Bemühen um eine solche Verwurzelung während der Duldung eher Hindernisse als Unterstützung erfahren haben?
Verwurzelung und Entwurzelung der Bäume in der Natur
Kurz darauf stellte sich für mich bei einem gewaltigen Herbststurm die Frage nach Verwurzelung und Entwurzelung abermals, diesmal in der Natur. Riesige alte Bäume haben in der vom Regen aufgeweichten Erde buchstäblich das Gleichgewicht verloren, sind mit ihren noch dicht belaubten Kronen so sehr ins Wanken geraten, dass die tiefe jahrhundertealte Verwurzelung keinen ausreichenden Halt mehr bieten konnte.
Seither denke ich darüber nach, was diese drei Erfahrungen mit Verwurzelung in ganz verschiedenen Kontexten miteinander zu tun haben könnten. Bei dem Versuch, die Bedeutung des Wortes einem Menschen zu erklären, der mit der deutschen Sprache noch nicht so tief vertraut ist, habe ich gemerkt, dass die Bildlichkeit des Wortes dabei eine große Hilfe ist. Deutlich wird daran: Verwurzelung ist keine Leistung, die im Leben allein aus eigener Kraft und Anstrengung gelingen und gesichert werden kann. Immer geht es um beides: um die Wurzeln, die mit vorhandenen Ressourcen wachsen und Halt suchen und um die Umgebung, die Erde wie die „Wetterlage“, in der die Verwurzelung geschieht, erschwert oder in Gefahr gebracht wird.
Verwurzelung als wechselseitig wirksame Triebkraft
Simone Weil betont dazu auf Menschen bezogen ebenfalls die Bedeutung der lebendigen Beziehung zur natürlichen Umwelt, wenn sie vom „aktiven Anteil am Dasein eines Gemeinwesens“ schreibt. Prägungen aus der Vergangenheit und Visionen für die Zukunft wirken bei der Verwurzelung ebenso mit wie der gegenwärtige Lebensraum, der alle, die sich darin begegnen, zur Mitgestaltung anregt.
Wenn also für eine Aufenthaltserlaubnis das Maß an Verwurzelung zu überprüfen ist, dann ist das in meinen Augen eine Anforderung, die sich nicht nur an einen einzelnen Menschen richtet, sondern ebenso an all jene Menschen der jeweiligen Region, die eine solche Verwurzelung mit Halt und Freiheit, Wärme und Wachsen, Geduld und Zuwendung begleiten und an der Gestaltung des gemeinsamen Lebensraumes mitwirken können. Ohne Bereitschaft zur Teilhabe an einem gemeinsamen Leben, ohne ein Gespür für unser Eingebundensein in das, was uns umgibt, entsteht keine Verwurzelung – das gilt für jeden Menschen, nicht nur für jene, die neu zugewandert sind und sich als solche dieser Prüfung unterziehen müssen. Die Auseinandersetzung mit dem Ungewohnten aus anderen Lebensräumen gehört dabei für alle ebenso zur Verwurzelung dazu wie das Bewusstsein und die kreative Entfaltung im Vertrauten. Verwurzelung ist also niemals eine Bringschuld, die von einzelnen Menschen allein beizutragen wäre, sondern eher eine wechselseitig wirksame Triebkraft.
Vielleicht könnte so manche behördliche Befragung und Einzelfallprüfung zum Aufenthaltsrecht humaner und einfühlsamer verlaufen, wenn sich die Verwaltenden nicht nur mit den Buchstaben des Gesetzes auskennen würden, sondern auch mit der Natur und Philosophie, die in der Bildlichkeit der Worte mitschwingt. Mancher Gesetzestext würde so vielleicht eine tiefere und umsichtigere Deutung erfahren – und den Blick auf die Schätze und Chancen unseres Miteinanders in gemeinsamer Verantwortung nachhaltig weiten und verändern.
Susanne Brandt