Neben den “Sonntagsmomenten”, die in diesem Blog in einer eigenen Kategorie zu finden sind, sollen hier ab und zu auch “Alltagsentdeckungen” Raum finden – jene oft nur kleinen, aber manchmal lange nachklingenden Begegnungen und Begebenheiten “am Rande” oder mittendrin im Getriebe der Arbeitswoche. Wie z.B. das unverhoffte gemeinsame Nachdenken über Poesie, wie ich es vor ein paar Tagen erleben konnte:
Gemeinsam über Poesie nachdenken – eigentlich sollte es darum an diesem Nachmittag gar nicht gehen. Wohl aber um Sprache. Ja, das ist jede Woche etwas, was uns verbindet, was uns inzwischen mehr verbindet als trennt, auch wenn wir uns in verschiedenen Sprachen zuhause fühlen: er als Afghane im Persischen und ich im Deutschen. Eigentlich geht es jedes Mal um das Vertrautwerden mit der deutschen Sprache. Aber über das Deutschlernen nach Lektionen sind wir längst hinaus. Inzwischen geht es immer öfter um Feinheiten, um das, was unsere Sprachen auch emotional auszudrücken vermögen, was im Klang von Namen mitschwingt oder wie Eltern ihren Kindern die Welt erklären. Wie sich Distanz oder Nähe durch Sprache ausdrücken lässt oder mit welchen Wendungen Bilder beschrieben werden, ohne die vermutlich keine Sprache auskommt.
Längst sind wir dabei wechselseitig zu Lernenden geworden. Ich übe mich darin, dem Klang des Persischen etwas abzulauschen und es ist eine besondere Erfahrung, ein Thema, das uns beiden vertraut ist, mit den Möglichkeiten unserer jeweiligen Sprachen zu ergründen, Ähnlichkeiten wie Unterschiede im Beschreiben derselben Dinge zu entdecken. An jenem Nachmittag war es die Astronomie, die wir uns auf diese Weise gemeinsam erschlossen haben: die Suche nach einfachen Worten und Wendungen in beiden Sprachen, um ein so komplexes und umfassendes Thema in seinen verschiedenen Facetten auszuloten.
Im Verlauf unseres Gespräches fiel sein Blick eher zufällig auf eine Postkarte, die bei mir auf dem Schreibtisch steht. In der Handschrift der Dichterin Hilde Domin steht darauf ein Gedicht von ihr, das mir viel bedeutet:
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.
Hilde Domin
Über Gedichte und Literatur haben wir eigentlich noch nie ausführlich gesprochen. Und ich wäre von selbst wohl nicht auf die Idee gekommen, dass wir gemeinsam Gedichte von Hilde Domin lesen könnten. Aber nun hatte er dieses Gedicht auf der Karte entdeckt und entzifferte Zeile für Zeile die gar nicht so leicht zu lesende Handschrift, erst langsam, dann immer flüssiger.
Spürbar wurde dabei, dass Poesie offenbar eine universale Kraft in sich trägt, die auch dort unmittelbar erfahrbar wird, wo Menschen mit einer anderen Sprache aufgewachsen sind. “Nicht müde werden…” – wie oft war diese Sehnsucht zwischen Resignation und Aufbruch ein Thema unserer Gespräche, war manchmal – zurückhaltend und tastend – verbunden mit einer tatsächlich sehr leisen Hoffnung, dass sich in die oft harte Realität der Sachzwänge, Ängste und Paragraphen ab und zu etwas Wunderbares einmischen möge.
Gesprochen haben wir über alles das schon oft. Nun aber war es dieses kleine Gedicht, das zu uns sprach: unaufdringlich, mit viel weniger Worten, mit ganz einfachen Worten, mit Worten für Dinge, die uns beiden vertraut sind: müde werden und dennoch die Hand ausstrecken, die Scheu des Vogels und die Unfassbarkeit des Wunders.
Ich weiß nicht, ob er beim Lesen versucht hat, den kurzen Text in Gedanken auf Persisch zu übersetzen. Möglich wäre das wohl. Aber vermutlich gar nicht nötig. Es ist vor allem das Bild, das sich in den Farben der jeweils eigenen Gedanken und Assoziationen einprägt. Und es kann immer wieder – überall auf der Welt – ein Vogel sein, der dieses Bild irgendwann und irgendwo neu und unverhofft aus der Erinnerung ans Licht lockt.
Susanne Brandt