Ich erwarte keine Antworten. Manchmal finde ich welche. Manchmal nicht. Vielmehr erhoffe ich mir von jedem Kirchentag Fragen. Immer wieder. Wenn das irgendwann aufhören würde – dieses sich selbst Hinterfragen, Fragliches erleben, neue Fragen entdecken und alte Fragen neu wecken – dann würde ich nicht mehr hinfahren.
Diesmal sind mir beim Erleben der Tage vor allem 3 Fragen besonders wichtig geworden. Und die folgenden Impressionen, Momente und Gedanken vermitteln vielleicht einen Eindruck davon, warum das so ist:
Die Lieder: Was geschieht beim Singen und Lauschen, dass Menschen auf so unterschiedliche Weise davon berührt werden?
Das gemeinsame Singen und das Hören auf Texte und Musik – beides gehört für mich elementar zum Kirchentag. Wo sonst lassen sich über mehrere Tage mit so vielen verschiedenen Menschen so viele Erfahrungen mit Liedern und Gesang sammeln? Eine Überraschung: Staunend erlebe ich, dass ein Lied als eingängiger und fröhlicher „Großgruppen-Ohrwurm“ empfunden werden kann und gleichzeitig für einen einzelnen Menschen – ganz langsam und für sich allein gesungen – eine völlig andere Farbe annimmt. Manchmal, so denke ich, wäre es gut, mehr Zurückhaltung zu üben bei schnellen Einschätzungen und Urteilen zu Liedern. Erstmal abwarten und lauschen: Ich traue Liedern ihren eigenen Weg zu, der oft überhaupt nicht vorhersehbar und schon gar nicht „machbar“ scheint, der sich weniger als Erfolg messen, sondern vielmehr auf ganz unterschiedliche Weise als Resonanz wahrnehmen lässt. Ich lasse dabei auch meine eigenen Texte „frei“, respektiere, dass sie sich auf unterschiedliche Weise mit einer anderen Musik, mit anderen Menschen und Glaubenshaltungen verbinden oder auch reiben können und setze mich zugleich den Fragen aus, die sich dadurch ergeben können. Das allerdings wage ich nur dann, wenn ich es mir vorher mit dem Text nicht leicht gemacht habe. Denn einen Text frei lassen können, hat nichts mit Beliebigkeit zu tun. Im Gegenteil: eher mit dem Mut, Haltung zu zeigen, spirituelle Erfahrungen zu beschreiben – und Vertrauen zu setzen in die Wurzeln und Flügel eines jeden Liedes.
Und auch das habe ich diese Tage auf unvergessliche Weise erlebt: Traumhaft schönen nächtlichen Vogelgesang auf dem Weg in die Unterkunft. Eine Nachtigall? Ein Sprosser? Ich kann es nicht sagen. Der Gesang aber, der sagt mir etwas. Auch ohne Text.
“Du siehst mich”: Begegnen und bewerten – wie gehen wir mit diesem Spannungsverhältnis um?
Klar, jeder Kirchentag bringt kontrovers zu diskutierende Themen aufs Podium, lädt zum Meinungsaustausch ein – und manchmal auch zu Demut und Stille. Seit sich die sozialen Netze durch alle Veranstaltungen spinnen, sind die Klicks für Zustimmung oder Missfallen manchmal schneller, als Menschen nachdenken und miteinander sprechen können. In nahezu jeder Kommentarspalte mischen sich in ein sachliches Pro und Contra auch zynische und bissige, verletzende und spottende Töne. Ab und zu tut es gut, die mobilen Geräte einfach zu Hause zu lassen, um sich deutlicher bewusst zu werden, was in der persönlichen Begegnung geschehen kann – und vielleicht auch wieder neu erlernt werden muss: eine Kultur des Zuhörens und der Begegnung mit erkennbarer persönlicher Haltung, ohne immer gleich “auf Bewertung zu klicken”.
Nicht einfach. Aber umso lebendiger und farbiger, wenn das gelingt. Erlebt habe ich etwas davon eher bei den ruhigeren, weniger überlaufenen Veranstaltungen am Rande: beim Gespräch mit einem jüdischen Theologen über das Dialogische und Dogmatische im Jüdischen und Christlichen. Oder bei unverhofften Treffen mitten in der Stadt. Oder beim Singen des Liedes „Du, ich gehe auf dich zu…“. Oder beim genauen Hinschauen auf die sogenannten „dunklen“ Seiten der Reformation…Natürlich dürfen und müssen Meinungen und Haltungen auch bewertet werden – aber wenn man sich dabei gegenüber sitzt, einander ausreden lässt und auch bei schwierigen Themen Respekt voreinander bewahrt, kommt man inhaltlich – beim eigenen Nachdenken wie im Dialog – oft deutlich weiter, als mit hastigen Klicks und Kommentaren, bei denen der Augenkontakt fehlt. „Du siehst mich“ – haben sich viele auf dem Kirchentag wie auch im Alltagsleben der großen Stadt gegenseitig ins Gesicht sagen können. Wie gut!
Worte finden für Gott und die Welt: Was geschieht durch Sprache in verschiedenen Religionen, Kulturen und Weltanschauungen ?
Diese Frage hat viele Facetten und lässt sich auf den Umgang mit religiösen Texten wie auch auf die Verständigung im Zusammenleben beziehen. Im Themenbereich zu Flucht und Integration stoße ich auf die These: „Die Verantwortung für das Gemeinwohl beginnt bereits mit der Wahl der Worte. Debattieren heißt nicht, alles zur Debatte zu stellen. Wenn Sprache aggressiv wird, schwindet die respektvolle Streitkultur.“ Ich habe Zweifel. Ist das eine treffende Antwort, wenn es um die Diskussion zu kontroversen Themen geht? Was kann das heißen: aggressive Sprache? Oft genug wird Christinnen und Christen vorgeworfen, mit viel zu wenig Biss zu diskutieren, weil sie Gefühle wie Zorn und Empörung im Gespräch zu verbergen suchen. Fraglich bleibt, ob das dann wirklich ehrlich und hilfreich wäre. Und doch: Sich der großen Bedeutung von Sprache im umfassenden Sinne – auch im Nonverbalen – bewusst zu sein und sensibel zu werden für Missverständnisse, für Überheblichkeit und Verachtung, für Verletzungen und Herabwürdigungen, die sich leicht in Gespräche mischen können, bleibt eine zentrale Herausforderung für jedes Reden über Gott und die Welt. Kirchentage bieten dafür noch immer eine besondere Chance, weil hier so viele Gelegenheiten des interreligiösen Dialogs gegeben werden und Menschen aus so vielen Ländern der Welt zusammen kommen, um hierzu ihre ganz unterschiedlichen Erfahrungen einzubringen. Verschiedene Sprachkulturen, verschiedene Rituale und Ausdrucksmöglichkeiten für die Unfassbarkeit Gottes, verschiedene Haltungen im Umgang mit heiligen Texten können mich inspirieren, vielleicht auch irritieren, können mein Verständnis erweitern und mein Wissen bereichern. Für mich allein und ohne einen solchen Austausch, wie ich ihn auf dem Kirchentag erlebe, komme ich mit der Frage nach der Sprache nicht weiter. Ohne die Stille wäre mir ein Reden und Schreiben über “Gott und die Welt” nicht möglich. Und nach dem Kirchentag bin ich noch lange nicht fertig damit…
Susanne Brandt