Menschenrechte, Inklusion und Teilhabe als Herausforderung für Bibliotheken – ein persönlicher Rückblick auf den Deutschen Bibliothekartag 2015 in Nürnberg
Bibliothekartag 2015 in Nürnberg, der „Stadt der Menschenrechte“ – das lässt sich als besondere Herausforderung und Einladung dazu verstehen, bei allen aktuellen Fragen und Entwicklungen des Medienwandels im Blick zu behalten, welche Chancen oder möglicherweise auch Barrieren sich für die Inklusion und Teilhabe von Menschen in verschiedenen Lebenslagen ergeben.
Vier Kongresstage mit einem dicht gefüllten Programm reichen sicher nicht, um darauf erschöpfend Antworten zu finden. Aber immerhin gab es reichlich Impulse zum Weiterfragen – und die eigentliche Arbeit zu den vielen gewonnenen Eindrücken und neu geknüpften Kontakten fängt an, wenn sich die Menschen vom Kongress wieder auf den Weg nach Hause machen…
Mein persönliches Weiterfragen und -denken knüpft dabei an Gespräche und Vorträge an, in denen es darum ging…
- was Diversity Management intern und im Umgang mit Nutzern für Bibliotheken heißt
- welche bewusste Beachtung Menschenrechte – insbesondere Behindertenrechte und Kinderrechte – dabei finden
- in welcher Form solche Fragen die Bibliothekspädagogik und Leseförderung beeinflussen
- wie speziell Kamishibai als Bildmedium (auch in Kombination mit anderen Medienformen) den besonderen Anforderungen bei der Kommunikation und Bildwahrnehmung in verschiedenen Lebenslagen gerecht werden kann – etwa bei Menschen mit anderen Herkunftssprachen oder bei Menschen mit dementiellen Erkrankungen
- welche Rolle in diesen und anderen Zusammenhängen „Silent books“ spielen
- wie in anderen Ländern mit diesen Fragen umgangen wird.
Welche Denkanstöße dafür beim Kongress gegeben wurden, sei hier nachfolgend ganz knapp und in Auswahl zusammengefasst:
Diversität als Querschnittsaufgabe
Kristin Futterlieb stellte erste Ergebnisse aus einem Projekt zu Diversity Management in Öffentlichen Bibliotheken vor. https://www.uni-goettingen.de/de/diversity-management-in-deutschen-oumlffentlichen-bibliotheken/474296.html
In der Diskussion, die sich daraufhin entwickelte, ging es u.a. um die fragwürdige Definition von „Altersinteressen“ („Generation 55+, 60+, 70+“ als Zielgruppe in Bibliotheken). Die Gefahr der Stigmatisierungen bestimmter Nutzergruppen durch besondere Angebote wurde ebenso genannt wie die vielerorts erlebten Schwierigkeiten, eine regelmäßige wirksame Kooperation z.B. zu Flüchtlingsinitiativen, Behinderten- oder Pflegeeinrichtungen aufzubauen und dauerhaft zu pflegen – möglicherweise deshalb, weil hier sehr unterschiedliche Arbeitsbedingungen herrschen, die Organisationsformen vielleicht schwer aufeinander abzustimmen sind oder einfach das Wissen voneinander noch nicht ausreicht, um hier wirklich gezielt die Angebote auf die individuellen Anforderungen und Bedürfnisse der Zielgruppe abzustimmen – Ausnahmen in Form von bereits gelungenen Kooperationsformen bestätigen die Regel! Auch ein Blick ins Ausland konnte hierfür keine signifikant erfolgsversprechenden Wege aufzeigen.
Insgesamt bleibt Diversität als Basis für Informationsgerechtigkeit eine Querschnittsaufgabe aller Bibliotheken, die Fragen des Medienbestandes und der Veranstaltungsarbeit ebenso betrifft wie die Zusammensetzung des Kollegenteams und Offenheit für eine diverse Nutzerschaft.
Speziell zur muslimischen Lese- und Bibliothekskultur gab Claudia Preckel interessante, aber nicht unumstrittene Einblicke in Ge- und Verbote des Lesens in der Vielfalt ganz unterschiedlicher religiöser Strömungen des Islams. Die Frage, die sich daran anknüpfte, lautete: Wie reagieren Bibliotheken auf diese Pluralität innerhalb der muslimischen Leserschaft? Wie erkennen und definieren sie Grenzen bei einer diesbezüglichen Medienauswahl? Zweifellos wäre im Umgang mit solchen Fragen eine qualifizierte Beratung durch muslimische Kollegen im Team wie auch eine gute Zusammenarbeit mit den Moscheegemeinden vor Ort von großem Nutzen. Auch hier gilt es also, neue Formen der Partnerschaft aufzubauen und von der Diversität im Kreise der Mitarbeitenden zu profitieren.
„Nichts über uns ohne uns“
Ein weiterer wichtiger Vortragsblock zum Thema „Menschenrechte“ beleuchtete den Aspekt „Freier Zugang zu Informationen“. Studentinnen und Studenten haben im Rahmen eines Social-Media-Projekts in einem Nachrichtenblog über diese Veranstaltung hier berichtet: http://bibliotheksnews.com/2015/05/28/freier-zugang-zu-informationen-in-bibliotheken/
So gab Anne Sieberns aus der Bibliothek des Deutschen Instituts für Menschenrechte einen kurzen Überblick zur UN-Behindertenkonvention mit Blick auf Barrieren in Bibliotheken, betonte die Bedeutung der Mitbestimmung unter dem Motto „Nichts über uns ohne uns“ und verwies u.a. auf weitere Materialien und Informationen unter folgenden Links:
Kinderbibliotheken sind Kinder(ge)recht!?
Teil dieses Themenblocks war auch mein eigener Beitrag zum Kongress, der diesmal in Kooperation mit der Kollegin Daniela Skokovic aus Serbien erarbeitet worden war und die UN-Kinderrechtskonvention als internationalen Orientierungsrahmen für Kinderbibliotheken in aller Welt vorstellte. Es ging uns bei dieser binationalen Kurzpräsentation darum, im Blick auf Kinderbibliotheken zunächst danach zu fragen, warum wir etwas tun – und daran anschließend dann das mögliche Wie und Was exemplarisch zu beschreiben. Wir haben dieses Warum auf einer Basis gesucht, die international verbindlich ist und damit in einem übergeordneten Sinne nicht an wechselnde Bildungsstandards oder Innovationsanliegen gebunden ist. Entwickelt hat sich daraus ein von den Kinderrechten inspiriertes 8-Punkte-Programm:
http://waldworte.eu/2015/05/17/was-uns-verbindet-kinderrechte-und-bibliotheken-binational-im-blick/
Mit den Kinderrechten bewegen wir uns auf der gemeinsamen Basis einer verbindenden und verbindlichen Verpflichtung nahezu aller Länder der Erde. 1989 hatten die Vereinten Nationen mit dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes erstmals ein Abkommen unterzeichnet, das die internationale Anerkennung der Menschenrechte für Kinder festschreibt und verbindliche Mindeststandards zum Wohle der 0- bis 18jährigen definiert. Seither ist und bleibt die Konvention auch für Öffentliche Bibliotheken eine besondere Herausforderung, berührt sie doch in mehreren Punkten wesentliche Fragen der Mitbestimmung, der Bildungs- und Informationsbedürfnisse wie insgesamt des seelischen und körperlichen Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen.
In der anschließenden Diskussion war vor allem das Interesse an „Silent books“ und an der Bedeutung dieser sprachenunabhängigen Bilderbuchform als Angebot für Flüchtlingsfamilien mit diversen Herkunftssprachen groß, so dass speziell dazu eine Weiterarbeit in Form von Medienempfehlungen und einem erweiterten Austausch stattfinden wird – auch mit der Kollegin aus Serbien!
Weitere Berichte zu den seit 2014 wirksamen Aktivitäten auf diesem Gebiet sind hier zu finden:
http://waldworte.eu/2014/08/13/silent-books-libri-senza-parole-ein-bibliotheksprojekt-fur-lampedusa/
Bibliothekspädagogik – mit welchen Zielen, Chancen und Maßnahmen?
Zur Leseförderung und Bibliothekspädagogik – ebenfalls zu betrachten und zu messen an den Anforderungen der Kinderrechtskonvention – gilt es, z.B. die Begleitforschung zum Projekt „Lesestart“ genauer und kritisch zu analysieren, die im Rahmen des Kongresses kurz vorgestellt wurde: http://www.lesestart.de/ueber-lesestart/begleitforschung/
In einem weiteren Sinne beleuchtet wurde das Thema dann beim Netzwerk Kinder- und Jugendbibliotheksarbeit. Denn nach wie vor gilt: Kinder- und Jugendbibliotheksarbeit ist ein “Hot spot” des öffentlichen Bibliothekswesens, für kleinere Einrichtungen ist sie das Kerngeschäft. Bei der viertägigen Fachkonferenz in der Akademie in Remscheid im Februar 2014, die hier nochmal rückblickend Erwähnung fand, wurde der lange und notwendige Weg zu einem neuem Leitbild, das uns durch das “digitale Zeitalter” tragen soll, begonnen und heftig diskutiert.
Darum ging es dann auch in dieser Veranstaltung: um eine von der Praxis geforderte bibliothekspädagogische Hochschulausbildung, um die Kinder- und Jugendbibliotheken in 10 Jahren und um internationale Tendenzen in Kinder- und Jugendbibliotheken. Kerstin Keller-Loibl forderte u.a. eine größere Anerkennung der Pädagogik als Grundlagenwissenschaft im Rahmen des bibliothekarischen Studiums – nicht allein auf Kinder bezogen und nicht vorrangig am Erwerb von Informationskompetenz orientiert.
Individualität fördern, Zeit miteinander teilen und entdeckendes Lernen in Beziehungen
Der bei diesem Kongress oft geäußerten Forderung, Kinder oder auch Erwachsene „fit zu machen“ für den Umgang mit einem stetig wachsenden Informations- und Medienangebot stehen pädagogische Anliegen gegenüber, die darauf abzielen, Individualität zu fördern, Zuwendung zu schenken oder „einfach“ gemeinsam Zeit zu erleben beim handlungsorientierten entdeckenden Lernen in Bibliotheken.
Und damit schließt sich der Kreis zu den Menschenrechten und Kinderrechten: Denn in engem Bezug zu einer solchen Erziehungshaltung steht das, was sich im Sinne der Kinderrechtskonvention etwa so zusammenfassen lässt:
„Lernen ist nicht allein für den späteren Beruf und persönlichen Vorteil von Bedeutung. Es ist die Chance des heutigen Tages, dass Kinder Erfahrungen sammeln und Begabungen entfalten. Sie spüren, was ihnen gut tut und wie sie daran mitwirken können, dass es auch anderen gut geht: Frieden und Gerechtigkeit, Verständnis im Umgang miteinander und Achtung vor der Natur kann man jeden Tag lernen und weitergeben. Nicht nur die Schule – auch viele andere müssen dazu beitragen, dieses Wissen über ein gutes Leben zu teilen und zu verbreiten.“
Wäre das ein möglicher Schritt zum „Weitermachen“ nach dem Bibliothekartag 2015? Sicher nicht zum ersten Mal – aber hoffentlich immer und immer wieder….
Susanne Brandt, im Mai 2015