Fotos von Steinen am Strand, wechselnde Muschelbilder und maritime Motive, die zum Staunen, Fragen und Entdecken einladen – Bildkartensätze wie diese führen vor Augen, was Kamishibai sein kann. Und was es vom Theater mit dramatischen Darbietungen einer szenisch gestalteten Handlung deutlich unterscheidet.
Kamishibai in dieser wie in manchen anderen Formen, die sich etwa in der Biografiearbeit mit Senioren zu historischen Alltagsbildern entwickelt haben, lassen sich mit dem Begriff Theater nicht immer angemessen beschreiben. Denn gemessen an der europäischen Papiertheaterkunst mit beweglichen Figuren ist der simple Bildwechsel zu wenig szenisch gestaltet. Und auch der Vergleich mit der japanischen Tradition des vereinfachten, von wirtschaftlichen Interessen bestimmten Straßenvergnügens hinkt an vielen Stellen und ist nicht ungebrochen auf die gegenwärtige Kamishibai-Praxis anzuwenden.
Kamishibai hier und heute ist vielleicht besser als eine Sonderform des Erzählens und Spielens mit darstellenden und bildnerischen Mitteln zu verstehen. Sie hat im großen Spektrum von Erzählweisen mit Papiermedien ihren ganz eigenen Platz und findet vor allem in der Wirkungsweise stehender Bilder und bildgestützter Sprachgestaltung ihr pädagogisches und künstlerisches Potential. Da sich diese Entwicklung vor allem im Kontext von Pädagogik und Literaturvermittlung ereignet, ist die Nähe zu literarischen und bildkünstlerischen Traditionen größer als zu szenischen Erzählformen des Theaters.
Gleichwohl geht es bei der Bildpräsentation mit Kamishibai um eine Art „Theater im Kopf“, das durch stehende Bilder angeregt wird: Bildgestütztes Erzählen und das Betrachten von stehenden Bildern führt nicht unbedingt den Verlauf einer Handlung vor, sondern setzt eher Anker und Zeichen, an denen innere Vorstellungen, Erinnerungen und Phantasien entspringen oder festmachen können.
Dabei ist es möglich, verschiedene Darstellungsformen und Erzählmittel frei miteinander zu kombinieren, also z.B. durch Bilder in eine Geschichte oder Atmosphäre hinein zu führen und dann wiederum die Szenen, die dazu als Phantasie im Kopf entstehen, bildnerisch umzusetzen und in die Präsentation kreativ einfließen zu lassen.
Wahrnehmungsbilder in Vorstellungsbilder verwandeln
Es geht im Kern um eine Übersetzungsleistung, mit der Bilder in Geschehen übertragen werden. Dazu muss das Wahrnehmungsbild in ein Vorstellungsbild verwandelt werden. Der Betrachtende muss die Bilder in sich hinein holen. Das gelingt Kindern oft genauer und detaillierter als Erwachsenen.
Das ruhige Lesen und Entschlüsseln von stehenden Bildern ist nicht allein eine Frage von kultureller Kompetenz, sondern oft auch eine Erfahrung, die durch schwierige soziale Verhältnisse behindert und zugleich ersehnt wird. Oft geht Armut einher mit Flüchtigkeit in der Wahrnehmung. Belastende Lebensbedingungen bei unzureichender Versorgung mit Kleidung, Nahrung und Wohnraum besetzen die Gedanken, lenken ab, lähmen die schöpferische Eigeninitiative und Konzentrationskraft. Der Körper reagiert, indem er sich den Ansprüchen der Außenwelt nur kurz und flüchtig stellt.
Auch wenn Angebote zur Bildbetrachtung und zum Phantasieren an dieser sozialen Notlage nicht direkt etwas ändern können, so lässt sich dabei doch etwas für und mit Kindern entdecken und erschließen: einen Raum, in dem sie aufgehoben sind, der sie dazu einlädt, ungestört mit handhabbaren Dingen umzugehen und die Belastungen des Alltags ein Stück hinter sich zu lassen.
Bildbetrachtung mit Kamishibai bewährt sich dabei als eine überall leicht umsetzbare Methode der gedanklichen Sammlung und Motivation zu eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Kamishibai als Einladung zum Schauen und Verweilen bei stehenden Bildern ist eine Verwandlungskunst, ein „Theater“, das sich eher auf der inneren Bühne der Gefühle und Vorstellungen abspielt – und so vielleicht von innen heraus wirken und verwandeln kann.
Medien-Tipp: http://www.glasundwort.de/14.0.html
Susanne Brandt