Wie groß die Bäume geworden sind, dachte ich, als ich diese Tage nochmal meine alten Schulwege entlang gegangen bin.
Eigentlich hatte ich nie eine besonders sentimentale Beziehung zu jenem Harksheide am Stadtrand von Hamburg – seit 1970 Stadt Norderstedt. Vor mehr als 35 Jahren habe ich die Stadt verlassen. Verglichen mit den 20 Jahren, die ich dort meine Kindheit und Jugend verbracht habe, sind mir andere Lebensorte später viel wichtiger geworden.
Aber wirklich bewusst Abschied nehmen musste ich von Norderstedt in all den Jahren nie. Immer blieb es noch der Wohnort meiner Eltern. Regelmäßig, zuletzt 14-tägig oder öfter, bin ich zurückgekehrt, um meine Eltern zu besuchen, in den letzten Monaten immer intensiver zu begleiten.
Jetzt, mit dem Tod meiner Mutter, ist das vorbei. Für den letzten Abschnitt ihres Lebens ist sie zu mir nach Flensburg gekommen. Allein wollte mein Vater nicht in Norderstedt bleiben. So lebt auch er nun in meiner Nähe.
Alte Schulwege
Zwischen den letzten Handgriffen für den Umzug habe ich nochmal einen langen Spaziergang gemacht auf den noch immer vertrauten Wegen: zur Grundschule, zum Gymnasium, zu den Plätzen, an denen wir so viel gespielt haben – an den Teichen und Bächen, in den Wäldchen und auf dem „Baui“, dem damals neuen Spielplatzkonzept in der noch jungen Stadt.
Immer habe ich in Norderstedt den alten Kern, das Herzstück, etwa organisch Gewachsenes im Stadtbild vermisst. Zusammengesetzt aus zunächst vier eher ländlich und naturnah geprägten Gemeinden an der Landesgrenze zu Hamburg, die in der Nachkriegszeit durch Neubausiedlungen einen rasanten Bevölkerungszuwachs erlebten, wirkte Norderstedt für mich vor allem zweckmäßig konstruiert, in vielen Teilen unschön verbaut und zersiedelt. Das alles war bald schon nicht mehr dörflich und nie wirklich urban.
Zufluchtsort in den Nachkriegsjahren
Mit den zahlreichen Nachbarskinder der 1960er Jahre waren wir mehrheitlich geborene Hamburgerinnen und Hamburger, die dann mit ihren Familien eines der praktischen kleinen Reihen- bzw. Siedlungshäuser oder Genossenschaftswohnungen bezogen. Der Anteil an Familien mit Fluchterfahrungen war – so zumindest meine Wahrnehmung – außergewöhnlich hoch. Und die Straßennamen in unserem Viertel erinnerten daran: Tuchelerweg, Romintenerweg, Trakenerweg…
Trotz Bau-Boom war die in dieser Gegend ursprünglich so dominante Natur mit lichten Birkenwäldchen, moorigen Teichen und Bächen zum Glück nicht ganz zu verdrängen. Zwischen den gehegten Gärten und Siedlungen war hier und da ein kleines Stück Wildnis stehen geblieben, wurde später mit neuen Anpflanzungen von Bäumen bewusst erhalten und – wo der Platz es erlaubte – sogar erweitert.
„Grüne Stadt“
Vor allem mit der Landesgartenschau vor mehr als 10 Jahren konnte Norderstedt sein Image als „grüne Stadt“ verbessern und mit einem beachtlichen Wander- und Fahrradwegnetz unter Beweis stellen. Auch meine Schulwege – erst zur Grundschule und später zum Gymnasium – waren grün mit jener für Norderstedt so typischen Mischung aus alten Bäumen und Neuanpflanzungen.
Und eben das ist das Bild, das mich jetzt beim Abschied von dieser Stadt doch anrührt: Die damals jungen Bäume sind in 40 Jahren so groß geworden, dass sie sich mit dem alten Baumbestand heute viel organischer verbinden als ich mir das damals hätte vorstellen können. Das in der Natur Gewachsene hat also im Blick auf die mir noch vertrauten „Wildnisplätze“ zwischen den Siedlungen nun doch hier und da ein ganz eigenes „Gesicht“ ausgeformt.
Trotzig und widerständig
Wenn Norderstedt – lebensgeschichtlich betrachtet – von nun an nur noch Erinnerung und nicht mehr familiärer Bezugspunkt für mich sein wird, dann sind es die Bäume, die jetzt dem Abschiednehmen und Zurückdenken eher unerwartet eine emotionale Prägung geben. Weil die alten Bäume unter ihnen noch da sind, wo sie vor 50 Jahren schon gestanden haben. Weil die jungen mit ihnen zusammen zugleich etwas erstaunlich Lebendiges und Neues haben wachsen lassen – und weiter wachsen werden.
Und weil mir diese Wildnisplätze und Bäume am Wegrand – bei allen gemischten Gefühlen, die ich mit der Kindheit an diesem Ort verbinde – irgendwie etwas Versöhnliches zusprechen: erstaunlich trotzig und widerständig in ihrer Lust, lebendig zu bleiben und sich zu wandeln.
Eine solche Kraft wird der Stadt weiterhin gut tun – und mir auch.
Susanne Brandt