Meine Reiselektüre: „Rebellinnen zu Fuß. Auf den Spuren von elf literarischen Wanderinnen“ von Anneke Lubkowitz und ein Essay von Volker Demuth zu Landscape Writing.
Die Texte berühren sich, inspirieren und öffnen zugleich jeweils für sich unterschiedliche Perspektiven, die das eigene Unterwegssein (nicht nur, aber auch zu Fuß) in Landschaften – diesmal in Polen – begleiten.
Und wie immer: Vor jedem Schreiben stellt sich die Frage nach der Sprache für die hier gesammelten Landschaftseindrücke, die uns in atemberaubender Naturschönheit begegnen und zugleich so tief geprägt und bedroht sind von Geschichte und Gegenwart menschengemachter Katastrophen.
Im Essay von Volker Demuth heißt es:
„Landschaft [ist] nicht Natur an sich, nicht reine, unberührte Ursprünglichkeit, sondern ein wechselseitiges Beziehungsgeflecht natural-sozialer Lebensbereiche, von denen das Leben insgesamt getragen wird. Getragen nicht allein im Blick auf Ernährung, mehr noch auf die naturbasierte Qualität des Lebens überhaupt: Wasser, Luft, Klima oder der Fortbestand einer reichen Tier- und Pflanzenwelt.“
Kann man dort, wo man um die Verletzungen all dieser Qualitäten weiß, überhaupt noch von der Schönheit dieser Landschaften schreiben? Welche Sprache wirkt wie und anders, wenn die Sprache der wissenschaftlichen Aufklärung wie auch der mediale Alarmismus ganz offensichtlich nicht das bewirken, was als Hoffnung damit vermutlich immer wieder verbunden ist: ein Umdenken…
Volker Demuth schreibt:
„Entgegen ihrer Absicht aufzurütteln, führen angstgeleitete Mechanismen der Problemverarbeitung hauptsächlich dazu, dass wir eine Distanz herstellen, durch die es gelingt, eine vermeintlich souveräne Sachlichkeit, einen Übersättigungsüberdruss oder schlichte Resignation zwischen unser Leben und dessen massive Gefährdung zu schieben. […]
Wahrscheinlich […] schätzt man Individuen falsch ein, wenn man sie als Akteure einstuft, die nach weitsichtigen Vernunftmaßstäben handeln. In Wahrheit sind sie sinnlich, spielerisch, emotional, spontan, offen, freihändig und manchmal auch lustbetont anarchisch. Genau wie gute Gedichte.“
Und er führt in seinem Essay weiter aus:
„Literatur entfaltet eine gleichzeitig sinnliche, emotionale und geistige Begegnung. Wir beginnen uns dabei zu fragen, was spüren, hören, riechen wir, wenn wir uns in bestimmten Landschaften aufhalten? […] Damit rührt Dichtung an eine grundlegende Erfahrung: Weltwahrnehmung und Weltbewahrung hängen aufs Engste zusammen. Was mir nicht nahegeht, geht mich nichts an.“
Am Anfang des poetischen Schreibens steht also zunächst die Frage: Was nehme ich wahr und was geht mir nahe in den bereisten und erwanderten Landschaften?
Zugleich aber auch: Wie könnten diese Wahrnehmungen in Gedichten eine spielerische, sinnliche und offene Ausdrucksform finden?
Gesucht habe ich hier die Antwort darauf in der zugleich spielerischen wie poetischen Form des Akrostichons, mit der die Landschaft „Baltisches Meer“ sich buchstäblich einschreibt in einzelne Gedichte, dabei jedoch an den verschiedenen Küstenabschnitten wechselnde Perspektiven in den Blick kommen: Das Bleibende im Wandelbaren spiegelt sich hier also auch in den unveränderten Zeilenanfängen wider, aus denen sich jeweils unterschiedliche Meeres- und Landschaftseindrücke entfalten.
Ostsee oder Baltisches Meer?
Dabei stellt sich die Frage des Perspektivwechsels gleich zu Beginn ganz wesentlich: Ostsee oder Baltisches Meer?
Von Norddeutschland aus betrachtet erscheint es stimmig, von Ostsee zu sprechen und zu schreiben. So bildet hier ein Ostsee-Akrostichon zum Dom in Greifswald als erste Reise-Etappe den Anfang.
Dann aber ändert sich die Perspektive aufs Meer: Mit Beginn der Reise entlang der polnischen Küste liegt den Akrosticha die internationale Bezeichnung „Baltisches Meer“ zugrunde.
Auch unterscheidet sich das in Greifswald entstandene Akrostichon insofern von den anderen als dass es sich nicht unmittelbar auf einen Landschaftseindruck bezieht, sondern vielmehr inspiriert von den „Fenstern für bewegtes Licht“ im Dom eine künstlerische Refexion aufgreift: Der dänisch-isländische Künstler Ólafur Elíasson hat hier, zusammengesetzt aus mehr als 3000 mundgeblasenen Glasteilen, eine Auseinandersetzung mit der Wirkung von Lichtveränderungen an der Ostsee geschaffen und sich dabei zugleich intensiv mit dem Wirken von Meereslicht auf das menschliche Empfinden bei Caspar David Friedrich beschäftigt.
Ins Heute übersetzt könnte eine Antwort darauf lauten: Die Natur und Landschaft hinterlässt einen Eindruck, aber wir ahnen immer noch etwas Unfassbares dahinter. Künstlerisches und kreatives Gestalten in all seinen Ausdrucksformen dokumentiert also nicht die Landschaft, sondern das Unfassbare, das darin aufscheint – so auch mit dem folgenden Zyklus von Akrosticha zu wechselnden Landschaften entlang der baltischen Küste zwischen Lübeck und der Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad:
Greifswalder Dom
Oktoberlicht
schlüpft durch die Fenster
taucht den Raum in bewegte Farben
so schillernd
erzählt es vom Meereshimmel
Ende offen
Insel Wolin
Baumharfe
aus Spinnenfäden die Saiten
leichtes Spiel für den Meerwind um
Töne zu zaubern und mit den
Insekten zu tanzen
schau – auch die
Efeuranken und Buchenblätter
säuseln und wippen
manchmal dazu
entdecken
erstaunliche
Resonanzen – und du?
Slowinzische Küste
Birken säumen den Weg zum welligen
Anstieg im Dünenlicht
leise folgt uns ein junger Fuchs
traut sich und teilt einen
innigen Augenblick
Schweigen
endloser Wandel von Meer und Sand
so leise
magisch das herbstliche Gold nach der
Ernte im Hinterland
erste Kraniche halten schon
Rast auf der Reise
Am Frischen Haff
Bald kommt die Nacht
am Haff verbeugt sich ein Baum
lauschend vor tiefen Geschichten
träumt wohl versunkenen Träumen nach
im Ufersand murmelt
Schneckengewimmel
ein Silberreiher im Schilf ist noch wach
still rollen die Wellen an Land
malen unter dem Abendhimmel
Erhofftes und
Erlittenes
rau in den Sand
Alle Texte & Fotos: Susanne Brandt, 2025
Texte zum Download: Akrosticha „Baltisches Meer“
Fortsetzung hier: Akrosticha „Flusslandschaft“ in Polen
In der polnischen Flusslandschaft: Feiner Dunst liegt im Tal






