Die gute Nachricht zuerst: Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) gewinnt zunehmend an Bedeutung in allen Bildungsphasen und -bereichen. Gut, dass Menschen, die in Kitas und Grundschulen mit Kindern lernen und leben, dafür inzwischen eine wachsende Vielfalt an Materialien finden können, mit denen sich die nötigen Vorbereitungen in der Praxis erleichtern lassen. In diesem Sinne verfolgt auch das umfassende Materialpaket „Bildung für nachhaltige Entwicklung in Kita und Schuleingangsphase“ aus dem Finken-Verlag das Ziel, den pädagogischen Fachkräften kompakte Hintergrundinformationen, verbunden mit methodisch-didaktischen Vorschlägen und Anleitungen zu kindgerechten Aktivitäten an die Hand zu geben.
Das beginnt mit einem Handbuch zur Einführung in die Inhalte der 17 Ziele wie zu den Grundbegriffen von Bildung, Werten und Kompetenzen in diesem Kontext. Dabei werden auch die nachfolgend entfalteten Themenbereiche – Ernährnung, Ich und wir, Müll, Rohstoffe, Klima – in ihrer Bedeutung vorgestellt und am Ende mit Dokumentationsbögen zur Erfüllung der gesteckten Ziele/Kompetenzen abgerundet, auf denen sich die Lernfortschritte sichtbar machen lassen.
Ein erster Überblick zeigt: Naturwissenschaftliches Wissen bzw. Umweltwissen hat in der Summe eine deutlich größere Priorität als kulturelle und soziale Aspekte. Elemente der kreativen, künstlerischen und ästhetischen Bildung kommen zumindest als Punkte auf den Dokumentationsbögen nur am Rande bzw. kaum ausdrücklich vor. Hier lohnt es sich also, in den praktischen Umsetzungen genauer zu schauen, ob und wie ein ganzheitliches Grundverständnis von früher Bildung seinen Ausdruck findet und wie das eingangs geforderte „Erforschen von Zusammenhängen“ sich auch in einer Vermittlung von Wechselbeziehungen zwischen den genannten Themenbereichen ausdrückt.
Komplexe Zusammenhänge reduzieren, runterbrechen, strukturieren
Unstrittig ist: Die Thematik ist in allen Punkten von einer enormen Komplexität geprägt und die Kunst der Vermittlung besteht darin, das nötige Reduzieren, Runterbrechen und Strukturieren so zu gestalten, dass Menschen alltagsintegriert eine dauerhaft positive Grundhaltung dazu entwickeln können, dass sie emotionale Zugänge entdecken, eigene Handlungsmöglichkeiten erproben und das Denken in vielfältigen Zusammenhängen, Wechselbeziehungen und Dilemmata als etwas Lebendiges und nicht Erdrückendes empfinden.
Insofern kann man auch von dem hier vorgestellten Material nicht erwarten, in dem reichlich gefüllten Ordner alles zu finden, was man für BNE in der frühen Bildung braucht. Es bietet in der einen oder anderen Hinsicht hilfreiche Vorschläge, lässt anderes unberücksichtigt und wirft Fragen auf, die hoffentlich ein Weitersuchen und Erproben in verschiedenen Richtungen auslösen.
Bedauerlich und nicht im Sinne des Anliegens wäre es, wenn die ausgefüllten Dokumentationsbögen so interpretiert und genutzt würden, als ließe sich das Thema BNE in dieser Weise Punkt für Punkt „abarbeiten“. Sind alle Kreuzchen verteilt, fängt das Umsetzen und Weiterentwickeln im Alltag mit vielen Varianten und Neuentdeckungen ja eigentlich erst richtig an…
Ernährung, Ich und wir, Müll, Rohstoffe, Klima
Mit den fünf genannten großen Themenbereichen – Ernährung, Ich und wir, Müll, Rohstoffe, Klima – ist es gelungen, wesentliche Herausforderungen zu benennen, bei denen sich im Erleben der Kinder vielfältige Anknüpfungspunkte ergeben. Jeder Themenbereich startet mit einem Begleittier aus verschiedenen Regionen der Welt, das zunächst per Steckbrief, Leitfragen und einer Geschichtenkarte vorgestellt wird. Auch bei sog. „Motivationen“ meldet sich das Begleittier mit menschlicher Stimme im Verlauf des Themas nochmal zu Wort. An anderen Punkten verliert sich der Bezug zu dem Tier im Verlauf der Themenentfaltung aber auch wieder.
Zu Beginn jedes Kapitels werden Hinweise auf eine Auswahl aus den 17 Zielen gegeben, die hier jeweils von Relevanz sind. Im Mittelpunkt der anschließenden Vertiefung stehen Vorschläge für handlungsorientierte Bausteine zum Mitmachen, begleitet von Schaubildern und Infokästen für die Wissensvermittlung. Dabei gelingen die Verbindungen von Information und praktischem Tun mal mehr, mal weniger schlüssig:
Was fehlt – und auf was könnte man besser verzichten?
So zeigt sich z.B. bei der Ernährungspyramide, dass Wasser, Obst und Gemüse darin die wichtigsten Grundlagen bilden. Darauf aber gehen die anschließenden Praxis-Materialien nur sehr begrenzt ein. Eine „Obst-und-Gemüsejahr-Uhr“ zur Veranschaulichung und Berücksichtigung saisonaler und regionaler Aspekte bei der Ernährung fehlt leider, wäre aber gerade an dieser Stelle als Basiswissen zur Ernährungspyramide sinnvoll und wichtig für die tägliche Praxis – gerade in Beziehung zur Klima-Thematik wie zu allen anderen Aspekten, die davon ebenso mit berührt sind.
Bei „Ich und wir“ stellt sich die Frage, warum das gut gewählte Thema „Literacy“ hier wiederum mit z.T. kunststoffhaltigen Materialien (aus alten Verpackungen oder Schaumkarton) vertieft werden soll. Eine Buchstabengestaltung nach den eigenen Ideen der Kinder im Land-Art-Stil mit Steinen, Zapfen und Stöckchen in der Natur und Drucktechniken mit Wasserfarben und gesammelten Blättern machen den Einsatz von hochverarbeiteten Materialien bei ganzheitlich ausgerichteten Erfahrungen mit Literacy eigentlich überflüssig und würden ein deutlich höheres kreatives und ästhetisches Potential bei der Ausgestaltung bieten – ganz ohne vorgegebene Schablonen.
Brüche als Herausforderung für eine alltagsintegrierte ganzheitliche Umsetzung
Ebenso stolpert man beim Lesen darüber, warum zur Veranschaulichung von Wasserkraft als erneuerbare Energie ein Entenrennen mit Plastiktieren vorgeschlagen wird, nachdem wenige Seiten zuvor im gleichen Kapitel noch das Thema Plastikspielzeug problematisiert wurde. Auch hier könnte die Zielsetzung alternativ mit anderen erlebnisorientierten Ideen und Naturmaterialien erreicht werden.
So gewinnt man z.T. den Eindruck, dass bei dieser Materialsammlung ein Denken in Zusammenhängen nicht immer im ganzheitlichen und themenübergreifenden Sinne geübt wird, sondern sich eher auf einzelne Aktivitäten bezieht, die sich mit ihren Materialien dann z.T. gegenseitig widersprechen.
Solche Brüche, aber auch Chancen in der Verknüpfung von verschiedenen Aspekten und Zielen spiegeln eine besondere Herausforderung bei der Auseinandersetzung mit der Thematik wider, die auch gesamtgesellschaftlich eine ganzheitlich und dauerhaft verstandene Umsetzung von Nachhaltigkeit oft erschweren, zugleich aber auch in ihrer Bedeutung schärfen. Umso wichtiger wäre es also, gerade solche Querverbindungen und Wechselwirkung zwischen allen fünf Kernbotschaften bzw. Themenbereichen von Anfang an besonders in den Blick zu nehmen und Menschen im Kita-Alltag dafür zu sensibilisieren.
Weltbeziehung entsteht in der Verbundenheit – nicht in der „Versuchsküche“
Bei allem exemplarischen Wert und praktischen Nutzen, den einzelne Vorschläge und Darstellungen – z.B. auch zu globalen Aspekten – aus diesem Material zweifellos haben: Am Ende bleibt die Frage, wie die genannten Themenbereiche deutlicher in ihrer wechselseitigen Beziehung zueinander begriffen und zum festen Bestandteil täglichen Erlebens und Handelns werden können – als alltagsintegrierte Grundhaltung in Kitas, Schulen und Familien und nicht nur projektmäßig als „Versuchsküche“.
Auch bleibt zu hoffen, dass die Kinder in der Praxis häufiger als hier beschrieben die Möglichkeit zum freien Spielen und Phantasieren in der Natur bekommen, um so ihre Weltbeziehung durch Wahrnehmung, Körpergefühl und Emotionen mehr und mehr zu vertiefen. Die damit verbundenen selbstbestimmten Bewegungserfahrungen wie auch Anregungen zur Imagination und zum Staunen, wie sie sich aus der Natur ergeben können, sind ein oft unterschätztes Lernfeld, das Körper und Seele, Energie und Stofflichkeit, Wind und Wetter, Ernährung und Empathie in der Begegnung mit der Vielfalt der Welt in sich vereint.
Das macht strukturierte Anleitungen, Praxishilfen und Überblicke wie in diesem Materialordner nicht überflüssig – aber ergänzungsbedürftig!
Überall, wo die Publikation mit kritischem Hinterfragen verbunden wird, wo sie Anlass bietet für neue Ideen zur stärkeren Einbeziehung von kultureller und ästhetischer Bildung, wo die Informationen und Vorschläge zu einem engagierten und kreativen Weiterdenken herausfordern, kann der Weg mit BNE – also der Anfang einer Entwicklung – gut damit beginnen.
Susanne Brandt
Kunstmann, Matthias: Bildung für nachhaltige Entwicklung in Kita und Schuleingangsphase. Finken-Verlag, 2020
(Material-Ordner mit Handbuch, Praxis-Angeboten, Postern und Registerblättern)