Erinnerst du dich noch an die Berichterstattungen und Kommentierungen zur sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015? Da war es beliebt, im Blick auf schwierige Entscheidungen für das Zusammenleben von „Herz“ und „Verstand“ zu schreiben – und zwar so, als ginge es hier um alternative berechenbare „Werte“, bei denen ein Mehr des einen ein Weniger des anderen bewirken könne. So als wäre also „mehr Herz“ ein Indiz für „weniger Verstand“ und folglich ließe sich mit „weniger Herz“ der Verstand vermehren.
Eine ähnliche Vorstellung blitzte zwischen den Zeilen auf, als davon geschrieben wurde, dass die „Willkommens-Party“ nun vorbei sei und der ungemütliche Herbst im gemeinsamen Alltag Einzug hielte. Auch hier waren es vor allem die vermeintlichen Emotionen, die einer „vernünftigen“ Flüchtlingspolitik offenbar den Blick verstellen könnten – so zumindest der Unterton vieler Berichte und Kommentare zur damaligen Zeit.
Dass sich dieses seltsame Gegeneinander von Verstand und Gefühl in die Sprache und Bilder der Medien eingeschlichen hatte, lag nicht zuletzt am medialen Getöse selbst, wurde da doch die vielzitierte „Willkommenskultur“ zunächst gern wie ein wunderbares „Sommermärchen“ gefeiert und überhöht, um es dann umso tiefer fallen zu lassen. Das alles hatte wenig mit der Realität zu tun, die eher still und unspektakulär als verlässliche und einfühlsame Unterstützung Tag für Tag von Unzähligen geleistet wurde, um ein gegenseitiges Vertraut werden langsam und geduldig wachsen zu lassen.
Kultur der Menschenrechte
Diese Unterstützung in ihren vielfältigen Formen trägt bis heute – viele Jahre später – dazu bei, dass Geflohene sich hier unter menschenwürdigen Bedingungen zunächst orientieren, dass sie Schutz und Wärme an Leib und Seele erfahren und sich mit dieser Ermutigung Schritt für Schritt weiterentwickeln konnten.
Es ging dabei und es geht weiterhin um eine „Kultur der Menschenrechte“ – nur taugt das in dieser nüchternen Sprache nicht als bunte „Event-Überschrift“ und eben auch nicht für die Wahl zwischen „Herz“ oder „Verstand“. Denn in dem Wort „Menschenrecht“ steckt beides: Menschlichkeit und Gerechtigkeit – und damit ist gesagt, dass „Herz“ und „Verstand“ nicht gegeneinander auszuspielen sind, sondern untrennbar miteinander verbunden bleiben.
Der dritte Begriff, der in der Zeit der Schlagzeilen zur sogenannten „Flüchtlingskrise“ oft in den Medien bemüht wurde, war der Begriff „Wahrheit“ – und zwar am liebsten unerschütterlich als Besitz und Machtanspruch all jener, die meinten, dass wieder mal genau das Falsche entschieden und getan worden ist im Umgang mit Geflohenen.
Demgegenüber glaubten einige – und glauben wohl noch immer – „die Wahrheit“ zu kennen hinter allem, was aktuell in der Welt passiert, und diese mit wenigen Sätzen erklären zu müssen. Das hat bis heute – gern auch mit wechselnden Themen – nicht an Wirkung verloren, wenn es darum geht, Andersdenkende auszugrenzen, ein schwarz-weißes Weltbild zu festigen und einen konstruktiven Diskurs zu verhindern.
Spannung von Urteilsvermögen und „Nicht-Wissen“
Immer dann, wenn gesellschaftliche Debatten zu komplexen Fragen des Miteinanders hochkochen und durch die Fülle kontroverser Meinungen und Meldungen auf allen Kanälen nicht übersichtlicher werden, kann es helfen, mal wieder bei den Philosophinnen und Philosophen nachzulesen.
Bei Hannah Arendt zum Beispiel. Weil in ihren Schriften und Gesprächen einmal mehr zum Ausdruck kommt, wie das Denken in und über das Politische eben keine Frage von „Herz oder Verstand“ ist, sondern eine Auseinandersetzung mit der Spannung von Urteilsvermögen und „Nicht-Wissen“. Weil es bei ihr um den achtsamen Dialog, um das gegenseitige Zuhören, das Erkennen und Anerkennen von Verschiedenheit und Pluralität geht. Und immer wieder um ein respektvolles Streiten auf der Suche nach Freiheit und Menschlichkeit.
Am Ende des legendären Interviews mit Günter Gaus im Oktober 1964 gab Hannah Arendt zu bedenken:
„Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie […] Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, dass dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. In einem – schwer ganz zu fassenden, aber grundsätzlichen – Vertrauen auf das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man das nicht.“
Ein solches Wagnis wird heute – viele Jahrzehnte nach diesem Interview – nicht weniger zur Herausforderung, wenn wir uns auf Beziehungen zu anderen Menschen und auf unsere Mitverantwortung in der Welt besinnen.
An vielen Orten haben Menschen in den vergangenen Jahren damit begonnen, an einem bis dahin unbekannten „Netz der Beziehungen“ zu knüpfen. Ohne Vertrauen zueinander wäre das alles nicht möglich gewesen. Und ohne „Vertrauen auf das Menschliche aller Menschen“ wird auch anderswo ein solcher Anfang schwer möglich sein. Nicht an den abgeschotteten Grenzen Europas. Nicht in jenen Ländern, die weiterhin Verbrechen an der Menschlichkeit zulassen. Nicht dort, wo Menschen ausgegrenzt, rassistisch verfolgt und unterdrückt werden.
Susanne Brandt, im Herbst 2021