Wenn die Schutzhaut bei Bäumen verletzt wird, entstehen Narben, die lange sichtbar bleiben. Solche Narben in der Rinde und Schlagstellen von entfernten Ästen erinnern in der Form manchmal an Augen. Dass ich mich beim Waldspaziergang von lebendigen Wesen umgeben fühle, mag mit diesen Augen zu tun haben, auch wenn mir natürlich klar ist, dass mich die Bäume nicht wirklich damit „anschauen“. Sehr wohl aber begegnet mir jeder Baum als lebendiges Gegenüber und erzählt mir etwas über die Zusammenhänge des Lebens. Denn um diese zu sehen und zu verstehen, brauchen wir Menschen gelegentlich etwas Nachhilfe.
Mein Beziehungsleben mit der Natur ist dabei weder esoterisch angehaucht noch neige ich dazu, die Verbundenheit über ein vermenschlichtes Denken und Betrachten der Bäume herzustellen. Bäume bleiben für mich rätselhafte Begleiter, ganz andersartig und zugleich viel elementarer in ihrer Bedeutung für den Erhalt unseres gemeinsamen Lebensraumes. Wir sind also angewiesen auf Naturräume, in denen Bäume mit ihren vielfältigen Wechselbeziehungen zu anderen Lebewesen gedeihen und sich entwickeln können.
Waldspaziergänge zwischen den Augen der Bäume helfen mir dabei, das eigene Augenmaß wieder neu auszurichten, Demut zu üben und dieses Angewiesensein nicht aus dem Blick zu verlieren.
Augenmaß und Leidenschaft
Augenmaß und Leidenschaft – das waren für Max Weber wesentliche Qualitäten im politischen Diskurs. Augenmaß also als eine Fähigkeit, im Aufbrausen der vielfältigen Anforderungen, Meinungs- und Entscheidungskonflikte einen Schritt zurück zu treten, um mit Besonnenheit und einer gewissen Distanz das wirklich Wesentliche und Kostbare zu erkennen. Auch daran darf man sich vom „ruhigen Blick der Bäume“ gern erinnern lassen.
Ruhig geht es nun diese Tage in Flensburg nicht gerade zu. Auch bei manchen Bäumen nicht.
Seit Monaten ist ein Waldstück am Bahnhof, das für einen geplanten Hotelbau zu großen Teilen gerodet werden soll, besetzt. Die im Rat dazu ausgehandelte Entscheidung für den Bau zeigt zwar durchaus Ansätze eines Kompromisses, bei dem die Investoren stärker als ursprünglich geplant auf den Naturraum Rücksicht nehmen. Aber eben nicht genug. Strittig bleibt für einige, ob Flensburg überhaupt noch ein weiteres Hotel dort im Bahnhofsbereich braucht.
Ich habe Respekt vor der Hoffnung und Leidenschaft der Baumhausbewohnerinnen und -bewohner, die mit ihrer Besetzung friedlich zu verhindern versuchen, dass mit den Rodungen begonnen werden kann. Ich verstehe ihr Anliegen und teile viele ihrer Sorgen.
Mehr noch hätte ich mir jedoch gewünscht, dass schon zu einem früheren Zeitpunkt ein anderer demokratischer Beschluss möglich gewesen wäre, mit dem sich der Weg geöffnet hätte zu einem ökologisch und sozial durchdachten Hotelkonzept an anderer Stelle, vielleicht auch im kleineren Zuschnitt, zur Verbesserung der Bahnreise-Bedingungen im Norden.
Denn auch darin sehe ich eine Chance für den Klimaschutz: Eine gastfreundliche, auf soziale und ökologische Belange ausgerichtete Gestaltung des Bahnhofsviertels kann dazu beitragen, dass sanftes Reisen und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel attraktiver werden. Dazu könnte an anderer Stelle im Umfeld auch der Bau eines Hotels gehören, wenn dieses von seiner Architektur und Bewirtschaftung her, bei Energieverbrauch und Service eben solche ökologischen und sozialen Aspekte in besonderer Weise und in mehrfacher Hinsicht berücksichtigt.
Gegenseitiges Verstehen braucht Achtung des gemeinsamen Lebensraumes
Angesichts der Hotelpläne am Bahnhof von Flensburg hat sich inzwischen jedoch ein schärfer werdender Konflikt mit den Investoren entwickelt, die lange schon auf eine Räumung des besetzten Waldes drängen, um endlich loslegen zu können. Für eine solche Räumung aber gibt es kein Hygienekonzept. Da werden sich die Menschen sehr nah kommen. Und Flensburg ist seit Tagen die Hochburg der Corona-Mutationen mit scharfen Kontaktbeschränkungen.
Jetzt gegen Ende Februar rückt die Zeit näher, da ein Fällen der Bäume aus naturschutzrechtlichen Gründen nicht erlaubt und erst im Herbst wieder möglich wäre. Ob es danach überhaupt noch zur Umsetzung des schon so lange verzögerten Vorhabens kommt…
Vorgestern nun sind die Investoren, begleitet von einem privat engagierten Sicherheitsdienst eigenmächtig in aller Frühe selbst angerückt, um Fakten zu schaffen. Sie haben damit begonnen, die Bäume durch Rindeneinschnitte zu destabilisieren. Und sie haben dabei wenig Rücksichtig genommen auf wichtige Schutz- und Sicherheitsbestimmungen für Menschen wie für die lebendige Natur auf dem Gelände. Von den Verletzungen der Bäume mal ganz zu schweigen…
Die Polizei, die von dem riskanten Einsatz ebenso überrascht worden ist wie alle anderen, war bald vor Ort, um die Aktion zu stoppen und zunächst eine Deeskalation zu erreichen. Zu retten waren die angesägten Bäume – und mit ihnen einige der Baumhäuser – nun allerdings nicht mehr.
Die vielleicht letzte Chance für Vertrauensbildung und Verhandlungen dürfte mit dieser verantwortungslosen Aktion gänzlich zerstört worden sein. Die juristische Klärung, die jetzt folgen muss, wird Zeit brauchen. Der März steht schon vor der Tür. Die Vögel fangen an, ihre Nester zu bauen…und niemand darf sie daraus vertreiben. Wie es die nächsten Tage weitergeht – noch offen. Die Situation bleibt angespannt – und wird aggressiver.
Wäre ein Kompromiss möglich gewesen? Lässt sich mit einem Neuanfang unter anderen Vorzeichen und Bedingungen ein Kompromiss neu finden?
„Ein Kompromiss ist kein Deal, sondern in ihm werden sich die Konfliktparteien dessen inne, was sie brauchen. Er ist damit eher eine Form von Verstehen als ein Werkzeug zum Ausgleichen (oder Übertünchen) von Gegensätzen.“, schreibt Andreas Weber in seinem Buch „Warum Kompromisse schließen?“ Und er gibt zugleich zu bedenken:
„Wo zeichnet sich eine glaubwürdige Übereinkunft der Reichen mit den weniger Wohlhabenden ab? Wann sehen wir ein ernsthaftes Zugeständnis des Wirtschaftswachstums an das Überleben der Natur? Wo bleibt ein Konsens zwischen der jungen Generation, die mit einem ausgebeuteten und verseuchten Planeten allein sein wird, und ihren Eltern und Großeltern, die ein fettes Dreivierteljahrhundert genossen haben?“
Die Frage ist also, ob und wie sich eine Basis des gegenseitigen Verstehens bei solchen Konflikten herstellen lässt. Und die Hoffnung bleibt, dass in Zukunft bei politischen Entscheidungen mehr kritische Sorgfalt und Mühe darauf verwandt wird, einem solchen gegenseitigen Verstehen wirklich eine Chance zu geben. Kompromissbereitschaft ist eine Kunst, die alle Beteiligten stark fordert und hier wie bei vielen anderen Fragen nur mit Zugeständnissen an das Überleben der Natur und mit Achtung vor dem Lebendigen gelingen kann.
Augenmaß und Leidenschaft helfen dabei. Waldspaziergänge manchmal auch.
Susanne Brandt