Eine Woche Streit in den Medien und zwischen Menschen mit kontroversen Meinungen – so kommt es mir vor. Eigentlich schon sehr viel länger, aber seit ein paar Tagen um so hitziger ausgetragen. Ich bin es leid, mich aufzuregen über das, was sich da am vergangenen Samstag in Berlin abgespielt hat. Die Argumente und Parolen vieler, die in einer seltsamen Mischung des Unmuts auf die Straße gegangen sind, lassen – so mein Eindruck nach einer Woche Hickhack von beiden Seiten – kaum mehr eine sachliche Diskussion zu.
Ich möchte Nein sagen, immer wieder Nein zu vielem, was da behauptet wurde. Aber offenbar ist es nicht gelungen, zur Freiheit eines fairen Austausches einzuladen. Zu verhärtet die Fronten. Zu verbissen das Beharren.
Also versuche ich es mal mit Ja:
Ja, die derzeitigen Vorsichtsmaßnahmen haben für viele auch belastende Folgen. Ja, Krankheiten und Sterben gehören zum Leben dazu. Ja, wir haben ein mehr oder weniger gutes Immunsystem, auf das viele vertrauen dürfen. Ja, menschliche Nähe bleibt wichtig. Ja, Kunst und Kultur ebenso. Ja, unsere Freiheit und unsere Grundrechte dürfen nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Ja, es gibt unterschiedliche Erkenntnisse der Wissenschaft und nicht nur die eine Lösung
Und ja: Nicht alle Lösungsversuche der letzten Monate sind gelungen und sinnvoll.
Wäre ja auch seltsam, wenn es anders wäre – eben weil Freiheit und Demokratie zugleich sehr viel Individualität und Heterogenität zulassen. Gut so – aber eben nicht gut geeignet für einfache Antworten und Vorschläge nach schwarz-weißen, national bis nationalistisch verengten Rastern.
Wir sind nicht der Nabel der Welt
Ja und nein: Wir sind nicht der Nabel der Welt, könnten aber unsere Energie und Ressourcen gut mit einbringen, um mehr über nötige soziale Reformen und Solidarität insgesamt nachzudenken. Denn deutlich wird mit einem global erweiterten Blick, wie dynamisch die weltweite Forschung und die unermüdliche Suche nach Lösungen gerade in Bewegung ist. Deutlich wird daran auch, wie eine solche Krise tiefer liegende soziale Notlagen und Missstände verschärft, die nicht allein durch Corona ausgelöst wurden, aber nun mit Corona umso klarer ans Licht kommen.
Deshalb halte ich einen erweiterten Blick auf die Welt gerade jetzt für unverzichtbar: Weil er im Großen wie im Kleinen zeigt, wie ernsthaft und verantwortungsvoll in manchen Ländern gerade jetzt Wege gesucht werden in der Auseinandersetzung mit der Pandemie. Und wie sich in anderen Ländern Menschenrechtsverletzungen und Notlagen umso mehr verschärfen. Weil er zeigt, wie wir weltweit aus Erfahrungen mit dem Scheitern und Gelingen lernen können. Und dass die von manchen so verbissen beschimpfte Strategie von „Merkel, Spahn & Co.“ dabei lediglich einen winzigen Anteil ausmacht, dieser aber in der Gesamtbilanz vermutlich nicht der Übelste ist.
Seriöse Forschung braucht Zeit
Es gibt also weiterhin viel zu tun, manchen Grund zur Hoffnung und manches, was mich ratlos oder wütend macht. Und wenn ich mich entscheiden soll, ob ich meine Energien hier in Deutschland im derzeitigen Gezänk um Corona aufreibe oder schlicht anerkenne, was überall in der Welt gilt – nämlich dass seriöse Forschung Zeit braucht und besonders in Demokratien viele Menschen ihre Verantwortung erkennen und konstruktiv zu nutzen wissen – dann halte ich eben diese weltweite Perspektive für die bessere Wahl. Denn die stärkt das Vertrauen in die Chance von Veränderungen.
Das ist kein Vertrauen zum Ausruhen. Auch kein Vertrauen in die Macht der laut und reißerisch hervorgebrachten Meinung. Vielmehr vertraue ich darauf, dass es gelingen kann, weltweit nach guten Ansätzen zu forschen und einander mit Geduld, Hoffnung, Verständnis und Engagement zu stärken.
Im Rückblick auf die vergangenen Monate bin ich sehr dankbar, dass ich von all dem in einem kreativen und lebendigen Austausch und Zusammenleben mit anderen Menschen bereits viel erleben konnte: Gesundheitsvorsorge, Kunst und Kultur, Gemeinschaft, Hilfsbereitschaft und Solidarität, ein Diskurs der Wissenschaften auf vielen Ebenen und weiterhin eine große Gestaltungsfreiheit. An all dem können Menschen derzeit teilhaben. Nicht grenzenlos und in mancher Hinsicht noch suchend – aber mit Umsicht und Augenmaß ist erstaunlich viel davon möglich.
Das ist nicht selbstverständlich – schon gar nicht im Vergleich zur sehr viel angespannteren Situation in anderen Teilen der Welt.
Ich war am letzten Wochenende nicht in Berlin dabei, als dort für ein anderes Verständnis von Freiheit und gegen Umsicht in Zeiten der Pandemie demonstriert wurde. Gut möglich, dass ich bei dem, was auf verschiedenen Kanälen – positiv wie negativ – dazu berichtet wurde, einiges übersehen habe.
Mir stellt sich die Frage, wie und wo dort die globale Perspektive wirklich differenziert und lernend statt belehrend in den Blick genommen worden ist? Wahrgenommen habe ich davon kaum etwas.
Den Blick weiten
Man kann Entscheidungen auf Bundes- und Landesebene in der Sache kritisieren. Das gehört zum Wesen von Demokratie. Immer schon. Jetzt auch. Aber mehr als bei anderen Problemlagen gilt es in der Zeit der Pandemie, den Blick weiter zu stellen: auf die Gesamtlage in der Welt, auf überforderte Gesundheits- und Sozialsysteme, auf Hilfesuchende auf dem Mittelmeer, auf Menschen, die unter völlig unwürdigen Bedingungen in Flüchtlingslagern festhängen.
Auch das war schon „vor Corona“ so, bleibt im Ringen um Menschenrecht und Menschenwürde jetzt umso wichtiger – und scheint zugleich für manche derzeit hinter der Macht der aktuell so verengten Meinungskämpfe zu verschwinden.
Angesichts dieser drängenden Fragen und Aufgaben mit einem fröhlichen Fest das Ende einer Pandemie zu feiern – wie letzte Woche in Berlin geplant – während in anderen Teilen der Welt eben diese Pandemie gerade katastrophale Ausmaße annimmt, ist nicht nur dumm, sondern zynisch.
Vertrauen geht anders: Vertrauen in die Möglichkeiten einer gemeinsamen Verantwortung und Ermutigung auf dem Weg durch die Pandemie verändern die Perspektive, regen an zu mehr Engagement und stärken die Hoffnung.
Kein Ende der Pandemie also. Eher ein anderer Anfang, der nicht herbei phantasiert werden muss. Denn er ist längst spürbar: weltweit und überall dort, wo Menschen mit diesem Vertrauen unterwegs sind…
Susanne Brandt / (Gedanken zu Corona im August)